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ehe wir noch hineinkamen. Die Klassengefährtinnen schließlich teilten mit uns die Freuden und Leiden des Schullebens, die ja die Erwachsenen doch in ihrer Bedeutung nicht mehr fassen können: die Spannung vor den wöchentlichen „Klassenarbeiten“ und die bange Erwartung der Rückgabe; und dann die großen Ereignisse des Schuljahres: die Trimesterzeugnisse und die Versetzung. Am Ende des Schuljahres wurden alle Klassen in der großen Aula versammelt. Es gab eine Schlußandacht, und der Direktor verlas die Liste der „Versetzten“, von der untersten Klasse angefangen, für jede in der Reihenfolge der Klassenplätze, so daß man hier zugleich erfuhr, ob man „herauf-“ oder „heruntergekommen“ war. Schließlich wurde aus jeder Klasse eine der besten Schülerinnen vorgerufen und empfing aus der Hand des Direktors eine Prämie. Es war für mich immer ein sehr peinlicher Moment, wenn ich zwischen den dichtgedrängten Reihen der Schülerinnen hindurchgehen mußte bis ganz vorn hin vor das Podium, auf dem das versammelte Lehrerkollegium saß; wenn alle Augen von vorn und von hinten sich auf einen richteten, während der Direktor einige freundliche Worte sprach.

Ich legte auch auf die Prämie weniger Wert als auf den Klassenplatz, so sehr ich mich über jedes neue Buch freute. Meine Schwestern, Cousinen und Freundinnen aber begrüßten mich mit freudigem Stolz, wenn ich wieder in der Menge untertauchen durfte. Auch das Vorzeigen der Zeugnisse zu Hause erweckte in mir gemischte Gefühle. Mutter und Geschwister begrüßten die guten Noten mit lebhafter Freude und beschenkten uns dafür; aber ich mochte es nicht, daß so viel Wesens davon gemacht wurde und daß alle Verwandten und Bekannten davon erzählt bekamen.

Für unsere Schularbeiten brauchten wir nicht viel Zeit. Die freien Stunden brachten wir im Sommer meist auf dem Holzplatz zu, im Winter mit Spielen im Hause. An Gesellschaft fehlte es nicht: Schulfreundinnen, Kinder aus dem Haus, vor allem auch unsere vielen Vettern und Cousinen. Eine Schwester meiner Mutter hatte, wie sie selbst, 5 Töchter und 2 Söhne (nur daß die Söhne hier die Jüngsten waren); die Jüngste war nur wenige Monate älter als ich und kam in meine Klasse, als die Familie von Lublinitz nach Breslau zog. Wir waren nach Temperament und Neigungen denkbar verschieden, hielten aber gute Kameradschaft. Mit rührender Gutherzigkeit freute sie sich an meinen Schulerfolgen. Sie hatte schwarzes, wolliges Negerhaar und große, schwarze Augen, war ein kleines Sprühteufelchen und fing gern Streit an. Ich sagte dann wohl, ich wollte nicht streiten, beharrte aber in aller Ruhe auf meinem Standpunkt; ich erinnere mich, daß sie einmal ganz erregt sagte: „Laß

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/49&oldid=- (Version vom 31.7.2018)