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mich doch auch einmal Recht haben!“ Solche kleine Szenen störten aber die Anhänglichkeit nicht. Wenn wir in größerer Zahl zusammen waren (z.B. an den Familien-Geburtstagen, bei denen die Kinder immer in einem besonderen Zimmer ihre Kaffeetafel hatten), spielten wir gern Schule oder Gesellschaftsspiele. Beim Auslösen der Pfänder bildeten den Höhepunkt „drei Fragen auf Ehre und Gewissen“. Wer sie gestellt bekam, mußte zuerst hinausgehen, während die andern mit glühendem Eifer berieten, was sie fragen wollten. Mit Herzklopfen kam man zurück, wenn man gerufen wurde: man mußte ja „auf Ehre und Gewissen“ wahrheitsgetreu antworten, und wußte doch, daß man jetzt auf Herz und Nieren geprüft wurde. Beliebte Fragen waren, wen man von seinen Geschwistern am liebsten hätte, wem von den Erwachsenen man ähnlich werden wollte. Es war das Verlangen, in die Geheimnisse des menschlichen Herzens einzudringen, das sich in diesem kindlichen Spiel geltend machte; und wenn die Antwort auf solche Fragen manchmal schwer fiel, so fühlte man sich doch auch merkwürdig erhoben bei diesem Hinabsteigen in die eigenen Tiefen. In der Dunkelstunde erzählten wir uns gern gruselige Geschichten. Manchmal gelang es mir auch, die andern zum Theaterspielen zu begeistern. Die Handlung dachte ich mir im Augenblick selbst aus; gelegentlich schrieb ich wohl auch so ein „Drama“ auf.

Unsere täglichen Kameraden, von uns fast so unzertrennlich wie wir beide voneinander, waren während vieler Jahre zwei Vettern, Zwillinge, die aus ihrer oberschlesischen Heimat nach Breslau geschickt wurden, um das Gymnasium zu besuchen. Sie waren mehrere Jahre älter als wir und standen im 12. Jahr, als sie kamen. Sie glichen sich so, daß sie beständig verwechselt wurden, wir aber konnten sie so gut unterscheiden, daß wir die Verwechslung nicht begreifen konnten. Im Temperament waren sie sehr verschieden. Der Lebhaftere und Schlagfertigere schloß sich näher an meine Schwester Erna an, der Ernstere und Schwerfälligere an mich. Ich habe ihn mit meinen Neckereien, gegen die er wehrlos war, oft sehr gequält und wenig merken lassen, wie gern ich ihn hatte. Die beiden wohnten ganz in unserer Nähe, bei gemeinsamen Verwandten, bei denen auch wir zu Hause waren. Sie fanden sich gewöhnlich am frühen Nachmittag bei uns ein und wurden von uns mit der Frage empfangen, ob sie ihre Schularbeiten schon gemacht hätten. Wir taten das immer sofort nach Tisch, und ich hätte an nichts Freude haben können, wenn die kleinen Pflichten unerledigt auf mir gelastet hätten. Die Jungen nahmen es natürlich nicht so genau. Sie waren sehr musikalisch, wir verbrachten viel Zeit am Klavier. Mit großer Geduld hielten sie uns zum Vierhändig-Spielen an; sogar ich wurde zu den

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/52&oldid=- (Version vom 31.7.2018)