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Beethovenschen Symphonien herangeholt, obgleich ich es nie zu der geringsten Fingerfertigkeit bringen konnte. Als wir etwas älter waren, besuchten wir öfters zusammen Konzerte und Theater. Die langjährige Freundschaft löste sich ohne jede äußere Veranlassung, als ich 16 Jahre alt war und anfing das Gymnasium zu besuchen.

Es mag zwischen beiden Tatsachen ein innerer Zusammenhang bestanden haben: es war die Zeit, in der in den jetzt 19-jährigen Zwillingen das Verlangen erwachte, „ihr Leben zu genießen“, und dies in Formen, für die sie bei uns kein Verständnis voraussetzen konnten. In den Kreisen der jüdischen Bourgeoisie galt weitgehend die „doppelte Moral“, die meine Schwester und ich leidenschaftlich ablehnten. Aus dieser Verschiedenheit der Anschauungen heraus hat sich die nähere Verbindung mit unsern Verwandten überhaupt wesentlich gelockert. Es blieb der äußere Verkehr und die herzliche Teilnahme bei allen freudigen und traurigen Familienereignissen; aber man glaubte bei uns einen verstiegenen und weltfremden Idealismus zu finden, während uns bei den andern vieles als frivol abstieß. Davon wurde auch meine Mutter mit ergriffen. Bei aller herzlichen Liebe zu ihren Geschwistern und dem Bedürfnis, sie häufig zu sehen und über Gegenwärtiges und Vergangenes mit ihnen zu plaudern, fühlte sie sich mehr und mehr nur noch im eigenen Heim ganz zu Hause.

Zu häuslichen Arbeiten hatten wir wenig Neigung und liebten es gar nicht, wenn wir zum Staubwischen oder Geschirrabtrocknen kommandiert wurden. Je mehr die Studien uns in Anspruch nahmen, desto mehr ließ man uns davon frei; nicht zu unserm Vorteil, denn es ergab sich daraus eine Einseitigkeit der Ausbildung, die ich später noch oft bedauern sollte.


2.

Zu den großen Ereignissen des häuslichen Lebens gehörten neben den Familienfesten die hohen jüdischen Feiertage: vor allem das Peßach- (= Paschafest) zeitlich etwa mit Ostern zusammenfallend, sowie das Neujahrsfest und der Versöhnungstag (Im September oder Oktober je nach der Verschiebung des jüdischen zum gregorianischen Kalender). Es ist den meisten Christen nicht bekannt, daß das „Fest der ungesäuerten Brote“, die Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, noch heute so gefeiert wird, wie der Herr es mit den Jüngern feierte, als er das allerheiligste Altarsakrament einsetzte und von ihnen Abschied nahm. Es wird zwar kein Osterlamm mehr geschlachtet, seit der Tempel zu Jerusalem gefallen ist, aber noch

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/53&oldid=- (Version vom 31.7.2018)