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immer verteilt der Hausherr unter den vorgeschriebenen Gebeten das ungesäuerte Brot und die bitteren Kräuter, die an die Trübsal der Verbannung erinnern, segnet den Wein und liest den Bericht über die Befreiung des Volkes aus Ägypten vor. Mit der eigenwilligen Konsequenz, die dem jüdischen Geist eigen ist, sind die Festbräuche ausgebaut worden: eine ganze Woche lang wird kein gesäuertes Brot und auch sonst nichts Gesäuertes genossen oder auch nur im Haus geduldet. Natürlich braucht eine vielköpfige Familie einen großen Vorrat an ungesäuerten Broten („Mazzen“). Sie werden in großen Bäckereien nach bestimmten Vorschriften und „unter Aufsicht des Rabbinats“ hergestellt. Wir bekamen sie schon einige Zeit vor dem Fest in großen Rollen von braunem oder grauem Papier, sie durften aber vor dem ersten „Sederabend“ (nach der festen Ordnung genannt, nach der das Mahl gehalten wird) nicht angerührt werden. Am Rüsttage vor dem Fest wird das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Es wird alles Gesäuerte entfernt, die letzten Brotkrumen werden zusammengefegt und verbrannt. Damit nicht genug: es wird alles Geschirr auf den Speicher oder in den Keller gebracht und dafür anderes herbeigeholt, das das ganze Jahr geruht hat und nun gründlich gesäubert werden muß. (In meinen Kinderjahren wurde das alles bei uns so gehalten; später haben die liberalen älteren Geschwister meiner Mutter manches „abgehandelt“). Die Hausfrauen haben an solchen Rüsttagen viel Arbeit und sind froh, wenn der Abend und damit das Fest endlich anbricht. (Die jüdischen Feste beginnen am Vorabend, wenn der erste Stern am Himmel steht).

Wir Kinder freuten uns natürlich immer sehr auf diese Unterbrechung des Alltagsdaseins, begrüßten die Töpfe und Schüsseln, die wir ein Jahr lang nicht gesehen hatten, und freuten uns auf die guten Gerichte, die es nun während dieser Zeit gab. Allerdings wurde die Woche doch recht lang, und es war wiederum ein Fest, wenn das langentbehrte Butterbrot zum erstenmal wieder auf den Tisch kam. Wir freuten uns auch auf die Abende mit der feierlichen Speisefolge und den vielen Gebeten. Ich hatte dabei eine besondere Rolle: Die Liturgie des Sederabends enthält eine Reihe von Fragen, in denen das jüngste Kind sich erkundigt, warum an diesem Abend alles so anders sei als an andern Abenden. Der Hausherr antwortet darauf und erklärt den Sinn der einzelnen Bräuche. Später, als ich schon „aufgeklärt“ war, begrüßte ich es, daß Neffen und Nichten da waren, die mich ablösten. Überhaupt litt die Weihe des Festes darunter, daß nur meine Mutter und die jüngeren Kinder mit Andacht dabeiwaren. Die Brüder, die anstelle des verstorbenen Vaters die Gebete zu sprechen hatten, taten es in wenig würdiger Weise. Wenn der ältere nicht da war und der jüngere die Rolle des Hausherrn

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/54&oldid=- (Version vom 31.7.2018)