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der „Sündenbock“, auf den alle Vergehen des Volkes geladen wurden, in die Wüste hinausgetrieben war. Das alles hat aufgehört. Aber noch heute wird der Tag mit Beten und Fasten begangen, und wer auch nur ein wenig noch auf sein Judentum hält, der geht an diesem Tage zum „Tempel“. Obwohl ich die Leckerbissen der andern Feste keineswegs verschmähte, hat es mich doch immer besonders angezogen, daß man an diesem Fest 24 Stunden und länger keinen Bissen und keinen Schluck zu sich nahm, und ich liebte es mehr als alle andern. Am Vorabend mußte man das Nachtmahl schon am hellen Tage nehmen; denn wenn der erste Stern am Himmel stand, begann der Gottesdienst in der Synagoge. An diesem Abend ging nicht nur meine Mutter hin, sondern die großen Schwestern begleiteten sie, und auch die Brüder betrachteten es als Ehrenpflicht, nicht zu fehlen. Die herrlichen alten Melodien dieses Abends locken sogar Andersgläubige herbei. Am nächsten Morgen stand meine Mutter etwas später auf als sonst (ihre gewöhnliche Zeit ist heute noch halb sechs Uhr), aber immer noch früher als alle andern.

Dann ging sie von Bett zu Bett und nahm von allen zärtlich Abschied, denn sie blieb den ganzen Tag in der Synagoge. Wir blieben möglichst lange im Bett (es war für diesen Fall erlaubt, im Bett zu lesen), unsere Schwester Frieda stand überhaupt nicht auf, weil sie sonst das Fasten nicht vertragen konnte. Wir Kleinen gingen zur Totenfeier in die Synagoge; darauf hielt meine Mutter, weil wir dabei unseres Vaters gedenken sollten. Es brannten auch Tag und Nacht zu Hause zwei große, dicke, weiße Kerzen zum Andenken an unsere Verstorbenen. Abends holte meist einer meiner Brüder die Mutter heim. Es war immer eine große Freude, wenn die ganze Familie sich wieder zusammenfand und wenn alle den Tag gut überstanden hatten. Die Pflicht zu fasten besteht für Knaben vom vollendeten 13., für Mädchen vom 12. Jahre an[1]. Ich hätte mich gern gewissenhaft daran gehalten, man hielt mich aber im 12. Jahr noch zu zart und erlaubte mir nur, bis mittag nüchtern zu bleiben. Vom 13. Jahr an aber habe ich immer ausgehalten, und niemand von uns dispensierte sich vom Fasten, auch als wir alle den Glauben unserer Mutter nicht mehr teilten und uns außerhalb des Hauses nicht mehr an die rituellen Vorschriften hielten.

Für mich hatte der Tag noch eine besondere Bedeutung: ich war am Versöhnungstag geboren, und meine Mutter hat ihn immer als meinen eigentlichen Geburtstag betrachtet, wenn auch der Glückwunsch- und Geschenktag der 12. Oktober war. (Sie selbst feierte


  1. Das Gesetz rechnet mit der frühen Reife des Orients.
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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/56&oldid=- (Version vom 31.7.2018)