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ihren Geburtstag nach dem jüdischen Kalender – am Laubhüttenfest –, für ihre Kinder aber hielt sie an diesem Brauch nicht mehr fest). Sie hat auf diese Tatsache großen Wert gelegt, und ich glaube, daß dies mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ihr ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen. Und weil unser Schicksal in eigentümlicher Weise verflochten ist, darum ist es wohl angebracht, daß ich in diesem Lebensbild meiner Mutter von meiner eigenen Entwicklung etwas mehr sage als von der meiner Geschwister.


3.

Meine Eltern wohnten seit anderthalb Jahren in Breslau, als ich am 12. Oktober 1891 zur Welt kam. Im Juli 1893 starb mein Vater. Ich berichtete schon, daß meine Mutter mich auf dem Arm hielt, als er von uns Abschied nahm, um die Reise anzutreten, von der er nicht lebend zurückkehren sollte, und daß ich ihn noch einmal zurückrief, als er sich schon zum Gehen gewandt hatte. So war ich für sie das letzte Vermächtnis meines Vaters. Ich schlief bei ihr im Zimmer, und wenn sie abends müde aus dem Geschäft heimkam, dann war ihr erster Weg zu mir. Ja, wenn ich krank war, nahm sie sich kaum Zeit, den Mantel abzulegen, setzte sich zu mir auf den Bettrand und ließ sich das einfache Abendessen dorthin bringen.

Ihre Gegenwart verscheuchte aber auch bei mir alle Leiden und Schmerzen. Als ich 7 Jahre alt war, durfte ich für die Weihnachtsferien mit Erna nach Lublinitz fahren. Am Heiligen Abend bekam ich heftige Schmerzen und konnte von dem guten Weihnachtskarpfen nichts mehr herunterschlucken. Der Arzt stellte eine Infektion fest, und ich mußte die ganzen Ferien als Patientin zubringen. Da meine Mutter ihr Geschäft nicht im Stich lassen konnte, schickte sie meine Schwester Else, um mich zu pflegen. Am Sonntag aber war sie selbst, ohne Anmeldung, plötzlich da. Weil es mir in dem großen Schlafzimmer im Giebel etwas einsam war, hatten mich die guten Tanten heruntergeholt und auf das Sofa im gemütlichen Eßzimmer gebettet. Als meine Mutter plötzlich im Türrahmen stand, war ich mit einem Sprung an ihrem Hals und blieb dann auf ihrem Schoß, bis sie am Abend wieder heimfahren mußte.

Trotz dieser innigen Verbundenheit war meine Mutter nicht meine Vertraute – so wenig wie sonst jemand. Ich machte für den äußeren Betrachter unbegreifliche, sprunghafte Umwandlungen durch. In den ersten Lebensjahren war ich von einer quecksilbrigen Lebhaftigkeit, immer in Bewegung, übersprudelnd von drolligen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)