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wie nachhaltig dieser Eindruck war. Als ich im nächsten Jahr anfing, zur Schule zu gehen, und so weit war, daß ich Gedrucktes notdürftig lesen konnte, suchte ich mir den richtigen Band von Schillers Werken aus dem Familienbücherschrank, ging damit zu meiner Mutter in die Küche und fragte sie, ob ich ihr „Maria Stuart“ vorlesen dürfte. Sie sagte ganz ernsthaft: „Lies nur“. Wie weit ich damals gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Man kann sich denken, daß solche plötzlich hervorbrechenden Feuergarben meine Angehörigen erschreckten. Man nannte das „Nervosität“ und suchte mich nach Möglichkeit vor Überreizung zu schützen.

Die erste große Umwandlung vollzog sich in mir, als ich etwa 7 Jahre alt war. Ich wüßte keine äußere Ursache zu nennen. Ich kann es nicht anders erklären, als daß damals die Vernunft in mir zur Herrschaft kam. Ich erinnere mich gut, daß ich von da ab die Überzeugung hatte, meine Mutter und meine Schwester Frieda wüßten besser als ich, was für mich gut wäre, und daß ich ihnen in diesem Vertrauen bereitwillig gehorchte. Der alte Eigenwille schien verschwunden, ich war in den folgenden Jahren ein leicht lenksames Kind. Hatte ich mir eine Unfolgsamkeit oder eine ungezogene Antwort erlaubt, so bat ich bald wieder um Verzeihung, obwohl mich das jedesmal die größte Überwindung kostete, und war glücklich, wenn dann der Friede wieder hergestellt war. Zornesausbrüche kamen kaum noch vor; ich erreichte schon früh eine so große Selbstbeherrschung, daß ich fast ohne Kampf eine gleichmäßige Ruhe bewahren konnte. Wie das geschah, weiß ich nicht; ich glaube aber, daß der Abscheu und die Scham, die ich bei Zornesausbrüchen anderer empfand, das lebhafte Gefühl für die Würdelosigkeit eines solchen Sich-gehen-lassens mich geheilt haben.

Allmählich wurde es auch in der inneren Welt lichter und klarer. Gehörtes und Gesehenes, Gelesenes und Selbsterlebtes boten einer regen Phantasie Stoff zu den kühnsten Bauten. Ein großes Ereignis, das mich lange beschäftigte, war der 80. Geburtstag einer Großtante, zu dem aus der weitverzweigten Verwandtschaft wohl 100 Personen geladen waren. Die alte Dame (Frau Johanna Radlauer; ich habe den Namen schon früher erwähnt) hatte selbst ihren jugendlichen Frohsinn noch bewahrt, und ihre vielseitig begabten Kinder und Enkel verstanden es, glänzende Feste vorzubereiten. Auf dem reichhaltigen Programm stand diesmal ein Tanz aus Großmutters Jugendtagen, den 8 Kinderpaare in Kostümen der Zeit aufführen sollten. Die Ballettmeisterin des Stadttheaters, eine Französin, übte ihn ein. Meine Schwester und ich waren eins der Paare; wir waren damals 9 und 7 Jahre alt. Da wir zu den Jüngsten gehörten und in keiner Kindertanzstunde vorgebildet waren, traute man uns nicht viel

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)