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war es gut, daß ich früh zur Schule kam und daß der lebhafte Geist solide Nahrung bekam. Als Erna mit 6 Jahren anfing, in die Schule zu gehen, und ich nicht mitdurfte, war ich sehr unglücklich. Weil ich nun zu Hause keine Gesellschaft mehr hatte, wurde ich in einem Kindergarten angemeldet. Das hielt ich für tief unter meiner Würde. Es kostete jeden Morgen einen heftigen Kampf, mich hinzubringen. Ich war unliebenswürdig gegen die andern Kinder und schwer zum Mitspielen zu bewegen. Meine Geschwister hatten abwechselnd die unangenehme Aufgabe, mich hinzuführen. Einmal war mein ältester Bruder an der Reihe. Als wir zum Haus herauskamen, merkte ich, daß es etwas regnete. Ich erklärte sofort, ich könnte auf dem nassen Boden nicht gehen, ich wollte umkehren oder er sollte mich tragen. Der gute Paul nahm mich sofort auf den Arm und trug mich den ganzen Weg. Mittags erklärte mir meine Mutter, ein so großes Mädchen müßte sich doch schämen, sich tragen zu lassen. Ob ich mich wenigstens bedankt hätte? Sonst sollte ich das jetzt nachholen. Das kostete wieder schwere Überwindung. Denn mein großer Bruder pflegte alles zu tun, was ich wollte, ohne Bitte und Dank zu beanspruchen. Er konnte mich stundenlang auf seinen Schultern im Zimmer herumtragen, während ich mich an seinen Haaren festhielt; dazu sang er mir unermüdlich Studenten- und Volkslieder vor. Zu seinem und meinem Vergnügen zeigte er mir oft die Bilder in seiner großen Literaturgeschichte und fragte mich, wen oder was sie vorstellten; und in seinem Eifer hielt er dabei die Unterschriften zu, obgleich ich noch nicht lesen konnte.

Als mein 6. Geburtstag herannahte, beschloß ich, dem verhaßten Kindergartendasein ein Ende zu machen. Ich erklärte, daß ich von diesem Tage an unbedingt in die „große Schule“ gehen wollte, und wünschte mir das als einziges Geburtstagsgeschenk; jedenfalls wollte ich ohne dieses keine andern annehmen. Es traf sich, daß in diesem Jahr die Schule nach den Herbstferien am 12. Oktober wieder begann. Immerhin war es nicht ganz einfach, meinen Willen durchzusetzen; denn das Schuljahr lief schon seit Ostern, und ich konnte zwar große Balladen aufsagen und mit meinen Geschwistern „Dichterquartett“ spielen, weil ich alles auswendig wußte, was auf den Karten stand, aber lesen und schreiben konnte ich noch gar nicht.

Meine älteste Schwester ging zum Direktor der Viktoriaschule und bat ihn, mich probeweise aufzunehmen; sie wollte sich dafür verbürgen, daß ich mitkäme. Da sie selbst eine ausgezeichnete Schülerin gewesen war und kürzlich ihr Lehrerinnenexamen bestanden hatte, wurde ich auf ihre Fürsprache hin angenommen. An meinem ersten Schultag fragte mich der gestrenge Herr Direktor, ob ich schon meine Geburtstagsgeschenke bekommen hätte, und

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)