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der Lehrer, der die unterste Vorschulklasse hatte, brachte mir eine Tüte mit Schokoladenplätzchen mit. Es war anfangs recht schwer, ohne jede Vorübung sofort mit Feder und Tinte zu schreiben und ganze Worte zu lesen. Aber Ostern wurde ich mit den andern versetzt und von da an behauptete ich immer einen der ersten Plätze.

Von den Freuden und Leiden des Schullebens habe ich schon erzählt. Ich war eine übereifrige Schülerin. Ich konnte mit hochgerecktem Zeigefingerchen bis zum Katheter vorhüpfen, um nur ja „dranzukommen“. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und Geschichte. Zu Beginn des neuen Schuljahrs verschlang ich immer sofort das neue Lesebuch und das neue Geschichtsbuch. Ich fing schon am frühen Morgen an zu lesen, während mich meine Mutter frisierte. Aufsätze zu schreiben, war mir ein Vergnügen. Da konnte ich doch etwas von dem anbringen, was mich innerlich beschäftigte. Ich hatte auch keine Scheu, sie den Lehrern abzugeben. Dagegen liebte ich es gar nicht, sie zu Hause lesen zu lassen, erst recht nicht, sie Freunden zu zeigen, die zu Besuch kamen und denen man von meinen Leistungen erzählt hatte. Ich wurde überhaupt außerhalb der Schule still und schweigsam, so daß es in der ganzen Familie auffiel. Das lag wohl daran, daß ich in meiner inneren Welt eingesponnen war. Zum Teil war vielleicht auch die herablassende Art mit schuld, in der Erwachsene mit Kindern zu verkehren pflegen. Wenn ich anfing über Dinge zu reden, für die ich ihnen zu klein schien, dann konnten sie lachen und es sich gegenseitig als Kuriosität erzählen. Da schwieg ich lieber still. In der Schule wurde ich ernst genommen. Vielleicht sagte ich im Unterricht manches, was die meisten Mitschülerinnen nicht verstanden. Aber ich merkte das nicht, und auch die Lehrer ließen nichts merken, als daß sie mich mit guten Noten auszeichneten.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/62&oldid=- (Version vom 31.7.2018)