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III
Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie


1.

[1] Der Onkel lud alle seine Geschwister mit sämtlichen Kindern zusammen ein. Ich sehe ihn noch auf der Freitreppe stehen, die zum Garten hinunterführte. Wir erhielten unsere Abendmahlzeit draußen auf dem Rasen, und seine Augen leuchteten vor Freude, während er uns ermunterte, es uns recht schmecken zu lassen. Als wir ihn das letztemal besuchten, wohnte er nicht mehr in diesem schönen Hause. Er hatte es aufgegeben und mit einer Mietwohnung vertauschen müssen. Bei diesem Besuch war er besonders weich und gütig, nahm uns auf die Knie und fragte eingehend nach unsern Schulangelegenheiten. Ich war damals 10 Jahre alt. Ich glaube, es war nicht lange danach, als wir plötzlich die Nachricht von seinem Tode erhielten. Meine Mutter ging sofort hin, obgleich es Werktag und Geschäftszeit war. Es herrschte eine schreckliche Aufregung in der ganzen Familie; wir Kinder sollten nichts Näheres erfahren, aber allmählich sickerte es doch zu uns durch, daß er sich erschossen hatte. Geschäftliche Sorgen hatten ihn dahin gebracht. Seine eigene Geschäftsführung war tadellos; aber er hatte seinen Brüdern ausgeholfen, die in Schwierigkeiten waren – einem in Rumänien und einem in Breslau –, und wurde in ihren geschäftlichen Zusammenbruch mithineingezogen. Als er keinen Ausweg mehr sah, wie er seine Gläubiger befriedigen konnte, wollte er den drohenden Verlust seiner Ehre nicht überleben. Man sagte nachher, daß es sehr wohl möglich gewesen wäre, seine Angelegenheiten zu ordnen. Wenn ich mich recht erinnere, war seine Beerdigung die erste, die ich mitmachte. Wir saßen vorher mit unserer Mutter unter den Leidtragenden in dem Vorraum der Leichenhalle, entferntere Verwandte und Freunde traten an uns heran und reichten uns die Hand zum Zeichen der Teilnahme; meine Mutter sagte mit einem Blick auf uns: „Der zweite Vater“. Dann öffneten sich die Türen der Leichenhalle, und alles strömte hinein. Eine ernste Musik empfing uns, der Raum war feierlich geschmückt; vorn stand zwischen grünen Bäumen der Sarg, ganz mit Blumen bedeckt. Der Rabbiner begann die


  1. Hier fehlen 28 Blätter im Manuskript.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/64&oldid=- (Version vom 31.7.2018)