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tüchtige Menschen wurden, die durch eigenen Ernst ersetzten, was die Eltern in ihrer Erziehung versäumt hatten. Ihr Liebling Ernst ging mit Vater und Mutter nach Berlin und blieb am längsten bei ihnen. Ich erwähnte schon, daß er im Weltkrieg gefallen ist. Der zweite Sohn, Fritz, wurde von der Firma, bei der er seine kaufmännische Ausbildung erhielt, schon früh nach Rom geschickt und hat seine Stellung noch heute inne. Richard, der Älteste, blieb in Breslau und verdiente sich mit Mathematikstunden das Geld, um seine Gymnasial- und Universitätsstudien bestreiten zu können. Als Unterprimaner bereitete er schon andere zum Abitur vor, und als ihm erklärt wurde, daß dies nicht gestattet sei, ging er vom Gymnasium ab und bestand das Maturium als Externer. Dann begann er Mathematik zu studieren, ging nach einigen Semestern als Assistent zu David Hilbert nach Göttingen, habilitierte sich dort und bekam später die Professur des zweiten führenden Göttinger Mathematikers Felix Klein. (Bei der „Reinigung“ der Universität von „Nichtariern“ verlor auch er seine Stellung. Eben bereitet er seine Übersiedlung nach Amerika vor). Solange er noch in Breslau war, besuchte er uns häufig. Eine Zeit lang kam er jede Woche einmal zum Mittagessen. Wir freuten uns immer darauf, weil er die erstaunlichsten witzigen Einfalle hatte. In diesem trockenen, humoristischen Ton hielt er aber mit meiner Mutter die ernstesten Beratungen, wie er seinen Eltern beistehen und seinen Vater von unsoliden Geschäften zurückhalten könnte. Er durchschaute die Verhältnisse ganz scharf und klar, hielt aber den Verkehr mit ihnen immer aufrecht und ließ sich durch nichts in seiner Kindesliebe beirren. Wir wußten bei diesen Gesprächen meist nicht, ob wir über die komische, oft drastisch übertreibende Ausdrucksweise lachen oder über den Inhalt weinen sollten.

Zu diesen ernsten Sorgen kamen weniger schwerwiegende Zerwürfnisse in der Familie, die meiner Mutter aber auch viel Kummer bereiteten. Die Brüder Courant hängen sehr aneinander, aber aus Empfindlichkeit und Rechthaberei gerieten sie oft aneinander und es konnte dann vorkommen, daß sie jahrelang kein Wort miteinander sprachen und es vermieden, zusammenzutreffen. Die sehr viel friedlicher gesinnten Schwestern litten darunter sehr und suchten immer zu vermitteln; aber das war keine einfache Sache. Glückte die Versöhnung zwischen zwei solchen Eisenköpfen, dann war niemand froher als sie. Sie erwiesen einander dann alle möglichen Aufmerksamkeiten, ja sie wagten, durch die Erfahrung nicht belehrt, wieder ein so nahes Zusammenleben, daß bei der nun einmal vorhandenen Eigenart ein neuer Zusammenstoß kaum zu vermeiden war.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/67&oldid=- (Version vom 31.7.2018)