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2.

Die Nachricht von der Verlobung der ältesten Tochter war für meine Mutter eine große Freudenbotschaft. Else war ja für sie immer ein Sorgenkind. Sie war nach ihrer Lehrerinnenprüfung in verschiedenen Familien als Hauslehrerin, manchmal in Breslau nur für die Nachmittage zur Beaufsichtigung der Schularbeiten, einigemale auch in kleinen Provinzstädten, wo sie den Unterricht und die Erziehung der Kinder übernahm. Sie war mit ganzer Seele Erzieherin, hatte starken Einfluß auf ihre Zöglinge und wurde sehr von ihnen geliebt. Aber nirgends blieb sie lange. Manchmal war Eifersucht der Hausfrau auf die schöne, junge Hausgenossin für sie die Veranlassung, zu gehen. Die Beziehungen zu den Kindern blieben oft bestehen; meine Schwester ist überhaupt eine treue Freundin und hat manche Verbindungen mit Lehrerinnen und Schulgefährtinnen das ganze Leben hindurch aufrecht erhalten.

Ihr Bestreben war es seit der Prüfung, eine Anstellung im Schuldienst zu bekommen. In Preußen war das fast unmöglich für eine Jüdin, und so folgte sie der Anregung einer Freundin, sich in Hamburg zu bemühen. Es glückte ihr auch, dort an einer Privatschule anzukommen. Es sollte nicht für lange Zeit sein. Sie traf in Hamburg mit Max Gordon zusammen, einem Vetter unserer Mutter, der sich vor Jahren dort als Hautarzt niedergelassen hatte. Im September des Jahres 1903 erhielten wir die Nachricht von ihrer Verlobung.

Einige Jahre vorher hatte sich die kurze Ehetragödie meiner Schwester Frieda abgespielt, und nicht lange nach Frieda hatte sich Arno verheiratet. Meine Mutter hatte zu seiner Eheschließung ausdrücklich ihre Zustimmung gegeben. Sie mochte Martha gern leiden, so lange sie nur als Freundin ins Haus kam. Ihr fröhliches Wesen und ihre treue Anhänglichkeit an unsere ganze Familie machte sie uns allen lieb. Erst im nahen Zusammenleben ergaben sich aus der großen Verschiedenheit der Naturen viele Schwierigkeiten. Das geräumige Wohnhaus, das wir kurz nach Friedas Hochzeit bezogen hatten, war für zwei Familien gebaut; es war vertikal geteilt und hatte zwei Treppenhäuser. Arno und Martha wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Eine Zeit lang bewohnten wir gemeinsam die größere Seite und hatten die kleinere vermietet. Später erhielt das junge Ehepaar die kleinere Seite für sich und meine Mutter mit ihren vier Töchtern und der kleinen Enkelin Erika die größere. Die Hoffnung, daß meine Schwägerin eine tüchtige Hilfe im Geschäft sein würde, erfüllte sich nicht. Die Art, Geschäfte zu betreiben, die sie in Amerika gelernt hatte, war von den Traditionen unseres Hauses

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/68&oldid=- (Version vom 31.7.2018)