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so verschieden, daß meine Mutter sie bald am liebsten wieder ganz ferngehalten hätte. Ihre Hilfe beschränkte sich auch schließlich darauf, daß sie Gänge besorgte, für die gerade niemand Zeit hatte. Sie übernahm das immer gern, da das „shopping“ eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen blieb. Ein dauernder Stein des Anstoßes war es für meine Mutter, die wenig geordnete Wirtschaftsführung täglich im eigenen Hause mitanzusehen. Natürlich vermehrten sich die Schwierigkeiten mit dem Anwachsen der Familie. Martha wünschte sich viele Kinder; groß, kräftig, gesund und schön sollten sie sein. Sie selbst war groß und stark und sah aus wie das blühende Leben.

Ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht bald. Umso glücklicher war sie, als das erste Kind zu erwarten war. Sie versicherte uns beständig, es würden „twins“ (Zwillinge) sein. Während der Entbindung waren wir alle im Eßzimmer, und sie unterhielt sich durch die halbgeöffnete Tür mit uns; als ihr schließlich der kleine Wolfgang gereicht wurde, fragte sie, wo das zweite Kind bliebe. Meine Mutter und ebenso der erfahrene Frauenarzt erklärten, daß ihnen so etwas noch nicht vorgekommen sei. Wolfgang war ein Kind, wie sie es sich gewünscht hatte, und ebenso Nummer 3 und 4, Helmut und Lotte: alle groß und kräftig, blond und blauäugig, rund und rotbäckig. Bei Eva aber, die an zweiter Stelle kam, stellte sich schon im ersten Jahr heraus, daß sie nicht ganz normal war. Sie lernte sehr spät und nie ganz korrekt sprechen und blieb auch geistig zurück. Daß dies Kind durch die Unvernunft der Eltern nicht sachgemäß behandelt wurde und daß sie auch die andern nicht zur gebührenden Rücksicht erzogen, war für meine Mutter eine neue dauernde Sorge. Sie hatte für Eva viel mehr Teilnahme als für die drei gesunden Kinder. Zeitweise nahm sie sie ganz zu uns, um sie mit großer Geduld sprechen zu lehren, ihr richtiges Essen und manches andere beizubringen. Die beste Unterstützung hatte sie dabei an der kleinen Erika, die mit den Vettern und Cousinen wie mit Geschwistern aufwuchs und sich um das unglückliche kleine Geschöpf liebevoll annahm. Die Erziehungsmethode meiner Schwägerin Martha bestand hauptsächlich darin, daß sie die Kinder reichlich fütterte, für ausgiebigen Schlaf und frische Luft sorgte. Und ihr Stolz war es, daß sie bei dieser Behandlung körperlich prächtig gediehen. Wenn sie krank wurden, dann wurde die Mutter nicht nur traurig und besorgt, sondern zornig, als ob ihr ein Unrecht geschähe. Sie sagte auch ganz offen, daß sie von Krankenpflege nichts verstünde, und war froh, wenn wir ihr dann zu Hilfe kamen.

Als gelernte Krankenpflegerin war ich die Nächste dazu, so oft ich bei solcher Gelegenheit zu Hause war. Im Februar 1920 hatten einmal alle Kinder zugleich die Grippe; an einem Abend stieg bei

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/69&oldid=- (Version vom 31.7.2018)