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dreien die Temperatur auf über 40. Helmut, der damals vier Jahre alt war, hatte am längsten damit zu tun, er hatte eine schleichende Lungenentzündung, die immer wieder neue Stellen ergriff und ein Vierteljahr anhielt. Als die andern gesund waren, wurde er von ihnen abgesondert und kam in ein großes Zimmer, das an mein Arbeitszimmer stieß. Wenn er allein war, rief er: „Tante Edith, komm doch herein. Du kannst deine Schularbeiten hier machen“. (Die „Schularbeiten“ waren meine philosophische Arbeit.) „Meine Mutter läßt immer kranke Kinder ganz allein liegen“. Ich raffte dann meine Papiere zusammen und versuchte nebenan am Schreibtisch meines Bruders weiterzuarbeiten. Wenn der kleine Patient mich dann immer wieder an sein Bettchen rief, sagte ich: „Helmut, wenn du so oft störst, kann ich doch nicht arbeiten“. „Du brauchst ja nicht!“, war die Antwort. Und das war so überzeugend, daß ich zu ihm ging und mit ihm spielte. Dafür faßte er eine große Zuneigung zu mir.

Als einige Zeit nach seiner Genesung meine Schwester Erna sich verlobte, kam er an einem Sonntag nachmittag zu uns herüber, während wir gerade bei Kaffee und Kuchen um den Familientisch saßen. Er lief auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Willst du meine Braut sein?“ Ich gab bereitwillig mein Jawort, nahm ihn auf den Schoß, schenkte ihm etwas von einem Kuchen und sagte, Braut und Bräutigam müßten alles miteinander teilen. Das gefiel ihm sehr gut. Auf einmal erschrak er: „Ich habe eben drüben schon Kuchen gegessen und dir nichts davon gegeben“. Doch sofort beruhigte er sich selbst: „Aber da warst du ja noch nicht meine Braut“. Von diesem Tage an brachte er mir alle kleinen Arbeiten, die er im Kindergarten verfertigte; ich mußte sie sorgfältig aufbewahren, denn von Zeit zu Zeit öffnete er die Truhe, in der ich sie aufhob, um sich zu überzeugen, wieviel er mir schon geschenkt hätte. Einmal stand er vor den langen Reihen meiner philosophischen Bücher und zählte sie. „Die mußt du alle später lesen, damit wir darüber sprechen können“, sagte ich. „Ja, wenn ich groß bin, werde ich alle lesen“, antwortete er in entschlossenem Ton. Er hielt an dieser Verlobung jahrelang fest. Nur manchmal kam ihm eine leise Ahnung, daß an der Sache etwas nicht ganz stimmte. Einmal fragte er: Tante Edith, wenn ich groß bin, bist du dann auch noch groß?“ Endlich brachten ihn die Neckereien der Größeren darauf, daß aus seinen Heiratsabsichten nichts werden könnte. Das war aber in meiner Abwesenheit, und als ich wieder zu Besuch kam, vertraute er seinem Vater an, er würde doch die Verlobung sehr gern aufrecht erhalten.

Ein Tag aus seiner schweren Krankheit ist mir noch besonders in Erinnerung. Es war die Krisis. Das Kind lag bleich und ohne Besinnung

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/70&oldid=- (Version vom 31.7.2018)