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in seinem Bettchen; manchmal sagte es ein paar Worte aus seinen Fieberträumen; der Puls war kaum noch zu fühlen. Erna und ich saßen bei ihm. Sie war damals schon fertige Ärztin, hatte aber solche Fälle noch wenig gesehen. Sie hatte gar keine Hoffnung mehr, und große Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich war viel ruhiger und zuversichtlicher. Ich hatte während des Krieges bei meinen Typhuspatienten manche Lungenentzündung gesehen und es öfters erfahren, wie sie sich nach einem schweren Kollaps, der einem Todeskampf glich, wieder erholten. Einmal kam unsere Schwägerin herein. Sie beugte sich über das Bettchen und sagte mit zornigen Tränen: „So ein schönes Kind soll man verlieren!“ Dann ging sie wieder hinaus. Wir beide sahen uns entsetzt an. Es war eine uns völlig fremde und fast unbegreifliche Einstellung, die aus diesen Worten sprach. Bald darauf kam der Kinderarzt und brachte noch einen Lungenspezialisten mit. Sie untersuchten, und der Internist befahl, eine Wanne mit heißem Wasser zu bringen. Das regungslose Kind wurde hineingehalten; nach kurzer Zeit fing es an, lustig zu strampeln und die Herren tüchtig zu bespritzen. Als der kleine Kerl mit roten Bäckchen und großen Augen wieder in seinem Bettchen lag, wurde ihm noch eine Tasse starker Kaffee zur Belebung des Herzens gebracht. Erstaunt rief er, als der kräftige Duft ihm in die Nase stieg: „Das ist ja kein Kinderkaffee, das ist Menschenkaffee!“ Dann verlangte er, wir sollten dunkel machen und ihn allein lassen. „Wenn kleine Kinder schlafen sollen, müssen große Menschen rausgehen“. Wir atmeten auf. Die Gewalt der Krankheit war gebrochen.

Wenn später wieder einmal eins der Kinder sich krank meldete, kam meine Schwägerin zu mir und sagte einfach: „Wolfgang (oder Helmut) läßt dich grüßen und dir sagen, er sei krank“. Bei Helmut kam noch einmal eine Lungenentzündung, als er sieben Jahre alt war. Es war gerade in meinen großen Ferien. Diesmal übernahm ich sofort die ganze Pflege, nachdem der Arzt die Diagnose gestellt hatte. Ich machte ihm einen Brustwickel nach dem andern und erzählte ihm Geschichten, um ihn ruhig zu halten. Ich brauchte meinen ganzen Vorrat an Sagen und Märchen auf und ging schließlich zur Biblischen Geschichte über. Als ich ihm vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies sprach, sagte er vorwurfsvoll: „Wie kannst du mir denn so etwas Schreckliches erzählen?“ Aber sonst wurde er nicht müde, zuzuhören. Wenn seine Mutter ihm etwas zu essen brachte, nahm er es gnädig an, sagte aber sofort: „Du kannst wieder gehen, zwei Menschen brauche ich nicht“. Manchmal mußte ich ihm etwas verweigern, was er verlangte, dann verschwand er schmollend unter der Bettdecke. Ich setzte mich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/71&oldid=- (Version vom 31.7.2018)