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ruhig an meine Arbeit und kümmerte mich nicht weiter um ihn. Nach einigen Minuten tauchte er mit strahlendem Gesicht wieder auf, und der Friede war wiederhergestellt. Wenn mein Bruder mittags nach Hause kam, löste er mich ab, damit ich zum Mittagessen gehen könnte; ebenso abends. Um 7 Uhr wurde für den kleinen Patienten Nacht gemacht. Dann entließ er mich bereitwillig, schärfte mir aber ein, daß ich früh um 7 wieder da sein sollte. An einem Sonntag hörte ich, wie Martha im Nebenzimmer in heftigen Worten klagte, sie könnte es nicht länger ertragen, so angebunden zu sein, sie müsse einmal an die frische Luft. Mein Bruder war sehr verlegen, weil er sich sagte, daß ich dies alles hören könnte. Als er ins Kinderzimmer kam, redete ich ihm zu, sie sollten ruhig fortgehen, ich bleibe gern allein bei dem Kleinen. So ging die ganze Familie in ihren Garten vor der Stadt, und wir blieben allein im Haus. Es war uns beiden sehr wohl dabei. Nach einigen Stunden kamen alle vergnügt zurück; Martha versicherte mir, sie sei nun wieder ein ganz anderer Mensch. Nach 14 Tagen kam der Arzt wieder und stellte ganz überrascht fest, daß von der Entzündung keine Spur mehr vorhanden war. Ich konnte meinen Krankendienst einstellen, und meine Schwägerin sagte überglücklich: „Muzchen, wenn Du wieder etwas hast, rufen wir sofort die Tante Edith. Die Mama ist für so etwas nicht zu brauchen“. Meine Mutter kam bei jeder Erkrankung der Kinder mehrmals am Tage nach ihnen sehen. Aber bei jedem Besuch fiel ihr etwas in die Augen, was sie aufregte. Wenn sie darauf aufmerksam machte, gab es unliebsame Auseinandersetzungen. Darum vermied sie es sonst nach Möglichkeit, in den Haushalt der Schwiegertochter hineinzusehen. Den Höhepunkt erreichte die Unordnung und Unruhe im Hause, wenn Marthas Mutter und ihre Schwester mit den Kindern aus Amerika kamen.

Meine Schwägerin sprach stets mit der größten Liebe von diesen Angehörigen, rühmte ihre Schönheit, ihre Klugheit, ihre witzigen und geistreichen Einfalle. Sie hatte meiner Schwester Else schon während der gemeinsamen Seminarzeit von ihrer schönen Mama vorgeschwärmt und nicht geruht, bis sie die beiden miteinander bekannt machen konnte. Da war dann Else sehr erschrocken; man konnte nämlich bei näherem Zusehen an Frau Kaminski noch Spuren ehemaliger Schönheit fein geschnittener Gesichtszüge entdecken, aber sie war durch ein Augenleiden und einen Hautausschlag sehr entstellt. Später, wenn sie von Amerika kam, fiel sie außerdem schon von weitem durch ihre Kleidung auf, durch schreiende Farben, riesenhafte Hüte und ebenso riesenhafte Schuhe. In Amerika hatten Mutter und Töchter zusammengelebt. Seit Martha wieder in Deutschland war, wechselten sie viele und lange Briefe, teilten sich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/72&oldid=- (Version vom 31.7.2018)