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alle Einzelheiten des täglichen Lebens mit und setzten die Neckereien, die zu ihrem Verkehrston gehörten, schriftlich fort. Monatelang wurde der Besuch der Angehörigen mit großer Freude erwartet. Es war überhaupt Marthas Grundsatz, sich lange und ausgiebig auf bevorstehende Ereignisse zu freuen, weil man die Vorfreude jedenfalls sicher hätte. Meine Mutter dagegen warnte immer davor, zu früh zu jubeln, faßte nicht gern Pläne auf lange Sicht und sprach von etwas Künftigem fast nur mit dem Zusatz: „Mit Gottes Hilfe“ oder: „Wenn Gott will“. Mit den amerikanischen Gästen zogen nun große Koffer und Körbe ins Haus, denen ein bunter Inhalt entquoll: Kleider, Hüte, Schuhe in allen Farben, Formen und Größen; Süßigkeiten und Spielsachen, Zeitschriften und Bücher. All das war teils zu eigenem Gebrauch bestimmt, teils als „Mitgebrachtes“ gedacht. Es war aber oft schwer, zu den Gegenständen Menschen zu finden, die sie verwenden konnten. Es war unmöglich, für diese ganze Jahrmarktherrlichkeit Schränke und Schubfächer zu finden, die sie aufnehmen konnten. Das wurde aber auch gar nicht beansprucht. Man war gewöhnt, aus den Koffern zu leben und das, was man herausgezogen hatte, auf dem Fußboden umherzustreuen. In Amerika gab es wohl Dienstboten, die immer wieder hinterherräumten. Hier aber war für einen Haushalt mit 4 kleinen Kindern höchstens ein Mädchen, meist nur eine Stundenfrau da. Und wenn nun noch zwei Erwachsene und zwei Kinder hinzukamen, so war an gar keine Ordnung mehr zu denken. Meine Schwägerin hatte sich gewöhnt, die Hausarbeit zu machen, wenn sie auch alles möglichst vereinfachte, um für andere Dinge Zeit übrig zu behalten. Ihre Mutter aber sah es nicht gern, daß sie Arbeiten verrichtete, die in Amerika Sache der Dienstboten oder der Männer waren. Das führte zu Mißstimmungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn, aber auch zwischen Mutter und Tochter. Nach ihrem letzten Besuch reiste die alte Dame schwer gekränkt ab, so daß wir herzliches Mitleid mit ihr hatten. Sie war bei allen Eigenheiten eine gütige Frau, die ihre Kinder und Enkel herzlich liebte und auch allen andern Menschen freundlich entgegenkam, geistig beweglich und vielseitig interessiert, humorvoll und unterhaltend. Manches Schwere was das Leben ihr gebracht hatte, trug sie, ohne etwas davon merken zu lassen.

Außer den Mängeln in der Haushaltsführung und Kindererziehung gab es noch etwas anderes, was meine Mutter an ihrer Schwiegertochter enttäuschte. Solange sie nur als Gast zu uns kam, hatte sie uns alle mit (zweifellos aufrichtig gemeinten) Liebesbeweisen überschüttet und war überglücklich, als sie in die Familie aufgenommen wurde. Ich erinnere mich noch, wie sie lachend und

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/73&oldid=- (Version vom 31.7.2018)