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weinend zugleich meine Mutter umarmte, als sie sie als Braut ihres Sohnes begrüßte. Meine Schwester Else, die auf ihren jüngeren Bruder immer etwas herabgesehen hatte, behauptete sogar, es sei Martha weniger um ihn als um die Familie zu tun. Niemand hätte ihr zugetraut, daß sie darauf bedacht sein könnte, ihren Vorteil auf Kosten der andern sicherzustellen. Meine Mutter gewann aber im Lauf der Jahre immer mehr den Eindruck, daß ihr Sohn in diesem Sinn beeinflußt wurde. Ihm selbst lag eigennützige Berechnung von Natur aus durchaus fern. Er war uns ein sehr guter Bruder und hatte es früher geliebt, uns gelegentlich kostbare Geschenke zu machen, z.B. hatte er für Erna zum Beginn ihres Medizinstudiums ein gutes Mikroskop gekauft. Und für Gerhard, seinen ältesten Neffen, den er besonders liebte, hatte er lange Zeit regelmäßig etwas von seinem Einkommen beiseite gelegt, weil er sagte, er als Junggeselle brauche für sich nicht zu sparen. Bis zu seiner Verheiratung war meine Mutter alleinige Geschäftsinhaberin, Arno und Frieda waren Angestellte mit Prokura. Meine Schwägerin besaß ein kleines Vermögen, das als Betriebskapital in unser Geschäft mit aufgenommen wurde; im Verhältnis zum Wert des großen Grundstücks und des reichen Warenlagers war es nicht beträchtlich, wenn auch eine willkommene Hilfe im Zahlungsverkehr. Sie gründete aber darauf den Anspruch auf Mitinhaberschaft, und mit dem Anwachsen der Kinderzahl kam das Verlangen, deren Zukunft sicherzustellen, hinzu. Meine Mutter litt sehr unter diesen Auseinandersetzungen. Sie hatte ihre ganze Arbeitskraft für ihre Kinder eingesetzt, und was wir besaßen, verdankten wir ihr. Für sich brauchte sie fast nichts; für ihre Kleidung mußten die Töchter Sorge tragen. Meist schenkten wir ihr zu ihrem Geburtstag, was sie brauchte, weil sie sich sonst zu sehr gegen Neuanschaffungen sträubte; und auch dann bekamen wir noch Vorwürfe, daß wir unnötige Ausgaben gemacht hätten. Wenn sie etwas nach jahrelangem Gebrauch ablegen oder wenigstens nur noch im Hause auftragen sollte, verteidigte sie mit komischer Entrüstung ihr „gutes, neues Kleid“. So lebten wir alle im Vertrauen auf die mütterliche Fürsorge und dachten nicht daran, für uns selbst Sorge zu tragen; auch wir Geschwister untereinander kannten keine Berechnung. Eine Regelung der Vermögensverhältnisse für die Zukunft zu verlangen, konnte uns schon darum nicht einfallen, weil wir den Gedanken an eine Zeit, wo unsere Mutter nicht mehr sein würde, gar nicht aufkommen ließen. Den Tod eines lieben Menschen als Tatsache, die unvermeidlich einmal kommen muß, nüchtern ins Auge zu fassen, davon zu sprechen und dafür Vorkehrungen zu treffen, gilt dem jüdischen Empfinden als Herzlosigkeit. So etwas überläßt

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)