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richteten, überaus schmerzlich. Dazu kam noch der nicht ganz unbegründete Verdacht, daß in den freundschaftlichen Aussprachen mit Außenstehenden über Mutter und Schwester und die Schwierigkeiten des häuslichen Lebens geklagt würde. Es ist öfters vorgekommen, daß Frauen, die ursprünglich mit mir befreundet waren, sich in meiner Abwesenheit um Rosa annahmen und in herzliche Verbindung mit ihr kamen. Wenn ich gelegentlich von ihnen hörte, welches Bild sie aus ihren Schilderungen von unserm häuslichen Leben bekommen hatten, dann mußte ich bei aller Anerkennung von Rosas täglichen Opfern doch manche Berichtigungen anbringen.

Sie wollte natürlich nur die Wahrheit sagen; aber sie sprach bloß von dem, was sie litt; und es kam ihr nicht in den Sinn, auch zu sagen, worunter die andern zu leiden hatten. Diese Freundinnen waren begeistert von ihrer Herzensgüte, ihrer zarten Aufmerksamkeit. Sie war im Verkehr mit ihnen – ganz ungeheuchelt – so sanft und bescheiden, daß sie sich von ihrem ganz andersgearteten Verhalten im Familienkreis gar keine Vorstellung machen konnten.

Meine Mutter wünschte oft, daß sie nur einen kleinen Teil der Liebenswürdigkeit, mit denen sie Freunden begegnete, für die eigenen Angehörigen übrig hätte. Nur eine große Verschlossenheit und eine gewisse Enge und Starrheit des Urteils erschwerte auch den Freundinnen den Verkehr. Die Besorgnis, auf Widerspruch und schroffe Abwehr zu stoßen, brachte meine Mutter so weit, daß sie sich schließlich fürchtete, ihre Wünsche im eigenen Hause zu äußern. In späteren Jahren kam sie mit dringenden Anliegen zu mir, damit ich sie bei Rosa vorbringen solle: „Du mußt ihr das sagen, mir würde sie nur widersprechen“. Ich hatte nämlich, als ich gereift war, einen immer stärkeren Einfluß auf meine Schwester gewonnen, ohne mich im mindesten darum zu bemühen. Ich will nur einen solchen Fall erzählen: Als die Silberhochzeit unseres ältesten Bruders herannahte, hatte meine Mutter den dringenden Wunsch, sie in unserm Hause zu feiern, weil wir die schönsten Festräume hatten, während die beschränkte und mit altem Hausrat vollgestopfte Mietwohnung des Silberpaares keineswegs für eine solche Feier geeignet war. Sie wußte wohl, welche Arbeit und Mühe Rosa damit auf sich nehmen mußte, und vor den Verhandlungen mit der Schwiegertochter graute ihr selbst am meisten, weil sie deren Art so schlecht ertragen konnte. Aber sie hielt es für eine Pflicht der Liebe und Gerechtigkeit gegen ihren ältesten Sohn. Ich konnte ihr das gut nachfühlen und wußte es auch meiner Schwester begreiflich zu machen. Die Einwände waren ihr vom Gesicht abzulesen, aber sie sprach sie nicht aus und fügte sich ohne weiteres. Der Vorschlag wurde gemacht und mit großer Dankbarkeit angenommen. Ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/78&oldid=- (Version vom 31.7.2018)