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begeistert für Geschichte, hätte sie auch gern als Studium gewählt, wenn sie ihm nicht zu sehr als brotlose Kunst erschienen wäre, nahm leidenschaftlichen Anteil an allen politischen Ereignissen und war ein glühender Patriot. Vor meinem Abitur kam er öfters zu mir, um mit mir Geschichte zu arbeiten. Allerdings merkte ich, daß er meine Vorträge über große „Kettenfragen“, wie sie unser Direktor liebte, nicht sehr aufmerksam anhörte. Er hat meiner Schwester später einmal gestanden, daß sie damals einigen Grund gehabt hätte, auf mich eifersüchtig zu sein. Ich ließ mich durch seine Zerstreuung nicht beirren, sondern erledigte das Pensum, das ich mir vorgenommen hatte. Sobald es fertig war, gönnte ich uns beiden aber auch eine Belohnung. Gewöhnlich setzten wir dann Erna ans Klavier und ließen uns zum Tanzen aufspielen. Hans war der beste Tänzer, den man sich wünschen konnte – ich pflegte zu sagen, wenn man mit ihm tanze, verzeihe man ihm alle seine Fehler –, und wir beide hatten die größte Freude am Tanz als solchem. Meine Schwester machte sich weniger daraus, sie tanzte nur mit meinem Schwager gern und gut.

In den ersten Monaten unserer Bekanntschaft sahen wir uns nur außerhalb des Hauses. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem wir den neuen Freund unserer Mutter vorstellten. Sie sah uns vom Fenster aus entgegen, als wir vom Tennisspielen kamen. Und von der Straße aus zum Fenster hinauf wurde die Bekanntschaft vermittelt. Im folgenden Winter stellten wir bei einem Ball die Mütter einander vor. Seitdem gab es häufig gegenseitige Einladungen in der Familie und gemeinsame Ausflüge. Frau Biberstein war Witwe und lebte allein mit ihrem Sohn. Er hatte wie wir seinen Vater sehr früh verloren. Wenn man Sohn und Mutter kannte, dann konnte man sich nicht nur aus ihren Erzählungen, sondern auch auf Grund ihres Wesens ein Bild von dem Vater machen. Er war Lehrer in Laurahütte bei Kattowitz, nicht nur für die jüdischen Kinder, sondern an einer allgemeinen Volksschule. Er muß ein stiller Gelehrter und ein feiner, gütiger Mensch gewesen sein. Wenn unter den polnischen Bauernkindern in seiner Schule ein armer Junge war, der gern Priester werden wollte, dann bereitete er ihn gern unentgeltlich zum Studium vor. Nach Jahrzehnten kam es in Breslau vor, daß Frau Biberstein auf der Straße von einem katholischen Geistlichen freudig begrüßt wurde und daß er sich dann als ehemaliger Schüler ihres Mannes vorstellte. Auch die andern Schüler bewahrten ihm ihr Leben lang eine dankbare Erinnerung. Die Forschernatur und das Lehrtalent hat Hans von seinem Vater geerbt.

Von der Mutter stammen das lebhafte Temperament und die großen gesellschaftlichen Gaben: er versteht ausgezeichnet zu erzählen und

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/82&oldid=- (Version vom 31.7.2018)