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ist unerschöpflich an den überraschendsten witzigen Einfallen. Wenn er Geschichten und Gedichte in oberschlesischer Mundart – z.T. eigene Erzeugnisse – oder jüdische Witze zum Besten gab, dann hörte man ihm gern stundenlang zu und kam aus dem Lachen nicht heraus. Es war kein Wunder, daß er in jedem geselligen Kreis sofort der Mittelpunkt wurde, daß es Einladungen für ihn regnete, daß Mütter und Töchter ihn als eine „Glanzpartie“ ins Auge faßten. Er besaß zwar gar kein Vermögen, aber eine große Laufbahn schien ihm sicher. Frau Biberstein war die zweite Frau ihres Mannes. Aus erster Ehe waren ein Sohn und eine Tochter da. Nach dem Tode des Vaters blieb sie mit den Kindern noch einige Jahre in Laurahütte und verdiente zu ihrer kleinen Pension durch Handarbeitsunterricht etwas bei. Als Hans zehn Jahre alt war, siedelte sie nach Breslau über. Der ältere Sohn, Fritz, studierte Medizin und ließ sich als Hautarzt in Gleiwitz nieder. Da er bald eine gute Praxis hatte und überdies eine vermögende Frau heiratete, konnte er Mutter und Bruder einen regelmäßigen Zuschuß geben, so daß Frau Biberstein nun nicht mehr für den Lebensunterhalt zu arbeiten brauchte. Er ist ein stiller, bescheidener Mensch und gleicht offenbar sehr dem Vater. Die Stiefmutter behauptete stets, daß sie ihn nicht weniger liebe als ihren eigenen Sohn; ebenso war das Verhältnis zwischen den Brüdern das denkbar herzlichste; so lange wie möglich wurde es Hans verheimlicht, daß sie nicht dieselbe Mutter hatten. Dagegen hatte man den Eindruck, daß Frau Biberstein für ihre Stieftochter Rudolfine nicht viel übrig hatte; jedenfalls wußte sie nicht viel Gutes von ihr zu sagen. Wir vermuteten, daß das junge Mädchen, weil es sich zu Hause unglücklich fühlte, in die Ehe mit einem Mann gewilligt hatte, dem es sonst wohl nicht leicht sein Jawort gegeben hätte.

Mutter und Sohn hingen mit zärtlichster Liebe aneinander. Frau Biberstein sonnte sich in ihrem Hans und verwöhnte ihn gründlich. Trotzdem sie in bescheidenen Verhältnissen lebten, wurde er in Essen und Kleidung sehr anspruchsvoll erzogen. Seine Vorzüge wurden in seiner Gegenwart beständig gerühmt – und wehe dem, der nicht einstimmte! Da sich alles um ihn drehte, war er, ohne es selbst zu merken, im häuslichen Leben recht rücksichtslos geworden. Andererseits äußerte sich seine Kindesliebe in ganz rührenden Formen. Seine Mutter war schwer herzleidend und mußte immer auf Anfälle gefaßt sein. Da außer ihm niemand zur Pflege da war – sie hatten als einzige Hilfe gewöhnlich nur ein sehr junges Dienstmädchen, auf das man sich nicht verlassen konnte –, schlief er mit ihr in einem Zimmer. Wenn sie große Handarbeiten anfing, fürchtete er, sie könnte sich überanstrengen, und half dann selbst mit; seine schmalen,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)