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geschickten Hände waren dabei ebenso kunstfertig wie beim Präparieren in der Anatomie und später in der ärztlichen Praxis. Er gehorchte auch noch, wo die mütterliche Besorgnis zur liebevollen Tyrannei wurde. So waren wir anfangs sehr erstaunt, daß er nicht mit uns rudern durfte. Es war ihm als zu gefährlich ein für allemal verboten. Alle Sommerferien verbrachte er Jahrzehnte hindurch mit seiner Mutter in demselben Badeort. Und er hatte sich vorgenommen, sich niemals von ihr zu trennen, immer mit ihr zusammen zu leben, im Alter für sie zu sorgen und ihr so zu danken, was sie für ihn getan hatte.

Darum wollte er gar nicht heiraten oder eine reiche Frau, deren Vermögen ihm gestatten würde, den Lebensabend seiner Mutter schön zu gestalten. Für diese jugendlichen Zukunftspläne war es eine Gefahr, als er meine Schwester kennenlernte. Er hat uns öfters erzählt, wie es geschah. Er kam zur Universität mit dem Vorurteil, daß alle Studentinnen häßlich seien, älter als er und eine Brille trügen. Bei der Eintragung in die Matrikel (die Stammrolle der Universität, in die jeder Student seine Personalien eigenhändig eintragen muß) stand Erna vor ihm. Daß sie schön war und keine Brille trug, war ohne weiteres zu sehen. Er konnte ihr aber auch über die Schulter gucken, während sie ihr Geburtsdatum eintrug, und feststellen, daß sie zwei Monate jünger war als er. Einige Tage danach vermittelte sein Schulkamerad Weiß die Bekanntschaft. Bald war man an der Universität gewöhnt, sie immer zusammen zu sehen.

Sie gingen miteinander von einer Vorlesung zur andern, saßen nebeneinander im Hörsaal, arbeiteten zusammen und machten alle Prüfungen zusammen. Eine Mitstudentin nannte sie scherzend (Erna + Biber-) Stein. Man glaubte allgemein, daß sie verlobt seien. Aber sie redeten sich mit „Sie“ an, und in unserer Familie verkehrte Hans nur als Freund. Über die gegenseitige Neigung waren sie sich bald klar. Es setzten zwar noch immer viele Mädchen ihre Hoffnung auf den vielbegehrten jungen Mann, und er liebte das, aber ernstlich zog er niemand anders mehr in Betracht. Und meine gute Schwester hatte für keinen andern Mann mehr einen Blick übrig. Natürlich lernte sie andere Kommilitonen kennen und war freundlich gegen sie, aber keiner konnte sich mit einer Hoffnung schmeicheln. Wie ihr Verhältnis eigentlich war, das habe ich erst viel später genau erfahren. In ihrem täglichen Zusammensein sprachen sie sehr offen miteinander. Hans schilderte ihr die Verpflichtungen, die er seiner Mutter gegenüber hätte, und sie kamen schließlich überein, daß sie niemals heiraten wollten. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie jahrelang dabei geblieben. Dieses eigenartige Verhältnis bedeutete für Erna natürlich eine schwere seelische Belastung. Dazu kamen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/84&oldid=- (Version vom 31.7.2018)