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häufige Zerwürfnisse infolge der großen Empfindlichkeit des verwöhnten einzigen Sohnes. Sie hätte an all dem wohl noch schwerer getragen, wenn nicht treue Freundschaft die Bürde mit ihr geteilt hätte. In der Klasse zwischen uns, die ein Jahr nach Erna und vor mir Abitur machte, war ein Paar unzertrennlicher Freundinnen, Lilli Platau und Rose Guttmann. Ich hatte mit den beiden oft in den Pausen auf dem Schulhof geplaudert, wir hatten uns gegenseitig unsere Aufsätze gezeigt, hatten auch einige Zeit zusammen private Literaturstunden. Erna lernte sie erst näher kennen, als Lilli anfing Medizin zu studieren und viele Vorlesungen und Übungen mit ihr gemeinsam hatte. Beide schlossen sich bald sehr herzlich aneinander an. Rose studierte Mathematik und Naturwissenschaften, und als ich zur Universität kam, fanden wir uns in den philosophischen und psychologischen Vorlesungen zusammen. Bald standen auch wir sehr nahe miteinander, und so erwuchs ein vierblättriges Kleeblatt, das fest zusammenhielt. Da Hans von Erna nicht zu trennen war, gehörte er als fünftes Blättchen mit dazu. Er wurde auch von uns keineswegs nur um ihretwegen mitgeduldet, sondern es verbanden ihn mit jeder einzelnen von uns herzliche freundschaftliche Beziehungen und sachliche Interessen. Nur waren wir keineswegs gesonnen, uns ihm so gefügig zu unterwerfen, wie seine Mutter und Erna das zu tun pflegten, sondern setzten uns sehr entschieden zur Wehr, wo er uns im Unrecht zu sein schien; es gab oft scharfe Auseinandersetzungen, sie endeten aber immer mit einer aufrichtigen und feierlichen Versöhnung. Da wir im Semester an verschiedenen Stellen beschäftigt waren, verabredeten wir alle einen gemeinsamen Abend in der Woche. Im Sommer kamen wir, wenn irgend möglich, im Freien zusammen, und ich erinnere mich noch an die tiefe Freude, wenn wir nach der Last des Tages in einem Garten vor der Stadt unter einem blühenden Apfelbaum beim Nachtessen saßen und freimütig und von Herzen über die Fragen sprachen, die uns bewegten. Im Winter kamen wir abwechselnd in unsern Häusern zusammen und arbeiteten fortlaufend etwas miteinander. Die Mediziner verlangten nämlich, daß die Philosophen etwas für ihre Allgemeinbildung tun müßten. Besonders die überaus lebhafte, geistig bewegliche und vielseitig interessierte Lilli fürchtete sich immer vor der Gefahr, im Fachstudium zu versimpeln. Natürlich stürzten wir uns sofort auf Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Wie weit wir darin kamen, weiß ich nicht mehr. In einem Semester arbeiteten wir uns mit Todesverachtung durch Meumanns „Experimentelle Psychologie“ hindurch, obwohl uns der dicke Band mit seinen vielen Versuchsberichten sehr langweilte und oft höchst lächerlich vorkam.

Heiß bewegte uns alle damals die Frauenfrage. Hans war unter

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/85&oldid=- (Version vom 1.8.2019)