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den Studenten ein weißer Rabe; er trat nämlich so radikal für vollständige Gleichberechtigung der Frauen ein wie nur irgendeiner von uns. Oft sprachen wir über das Problem des doppelten Berufs. Erna und die beiden Freundinnen waren sehr im Zweifel, ob man nicht der Ehe wegen den Beruf aufgeben müsse. Ich allein versicherte stets, daß ich um keinen Preis meinen Beruf opfern würde. Wenn man uns damals die Zukunft vorausgesagt hätte! Die drei andern heirateten und behielten trotzdem ihren Beruf bei. Ich allein blieb unverheiratet, aber ich allein ging eine Bindung ein, der ich mit Freuden jeden andern Beruf zum Opfer bringen wollte.


2.

Außer den Zusammenkünften im engsten Kreise trafen wir uns auch in erweiterter Geselligkeit. Die Familien Guttmann und Platau standen schon in Verkehr und wurden nun auch mit unsern Familien bekannt. Frau Platau war Witwe und hatte noch einen Sohn, der ein Jahr jünger war als Lilli. Ihr Mann war schon vor der Geburt des zweiten Kindes gestorben, und sie hatte sich, wie unsere Mutter, entschließen müssen, selbst für ihre Kinder zu sorgen. Es fiel ihr sehr viel schwerer, weil ihre natürliche Begabung und Neigung gar nicht in diese Richtung ging. Sie eröffnete eine mechanische Stickerei, in der sie eine größere Anzahl Mädchen beschäftigte. Sie war aber immer glücklich, wenn sie das Maschinenzimmer verlassen und sich in ihre einfachen, aber behaglichen Wohnräume begeben konnte.

Ihre beiden Kinder, besonders die begabte und temperamentvolle Lilli, waren ihr Stolz und ihre Freude. Sie liebte ihren Hans sicherlich nicht weniger, aber er war still und bescheiden und wurde von der lebhaften und selbstbewußten Schwester immer etwas in den Schatten gestellt. Das geschah ganz unbewußt, die ungleichen Geschwister hingen mit der größten Liebe aneinander. Ihre Mutter war eine schöne Frau mit edelgeschnittenen Zügen und großen, seelenvollen Augen; bis ins hohe Alter bewahrte sie eine außerordentliche Anmut. Sie nahm an unserm Studium und allen unsern Angelegenheiten lebhaften Anteil, hatte auch von sich aus starkes Verlangen nach geistigen Anregungen, war aber viel ruhiger und zarter als ihre Tochter. Ich fühlte mich zu dieser feinen, gütigen Frau sehr hingezogen, und auch sie faßte zu mir eine tiefe Zuneigung, die sie mir durchs ganze Leben bewahrte. Plataus wohnten ganz in der Nähe der Universität, und Lilli stellte mir für meine Hohlstunden ihr nettes, kleines Arbeitszimmer zur Verfügung. Oft habe ich zwischen zwei Kollegs dort an ihrem Schreibtisch gesessen. Frau Platau kam nur herein, um mich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/86&oldid=- (Version vom 31.7.2018)