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kurz zu begrüßen und mir eine kleine Stärkung zu bringen; dann ließ sie mich ungestört. Besonders schön waren die Abende, an denen Erna und ich allein in diesem gastlichen Hause eingeladen waren. Erst wurde am Teetisch gemütlich geplaudert; die liebevolle Hausfrau sorgte stets dafür, daß er reich mit guten Sachen besetzt war. Dann spielten Frau Platau und Erna vierhändig, Lilli und ich aber zogen uns in ihr Zimmerchen nebenan zurück. Ich mußte mich auf ihre Chaiselongue legen, sie setzte sich daneben, und dann gab es den vertraulichsten Gedankenaustausch.

Nicht so unbedingt heimisch wie in diesen wohlgeordneten, harmonischen Verhältnissen fühlten wir uns in der Familie Guttmann. Hier lebten noch beide Eltern. Der Vater war ein großer, stattlicher Mann, etwas rauh und wortkarg. Tonangebend im Hause war seine kleine, behende und sprudelnd lebhafte Frau. An ihr hingen die drei Kinder – Rose, Hede und das verwöhnte Nesthäkchen Karl – mit zärtlicher Liebe und Bewunderung. Während unsere Mutter und Frau Platau für uns alles mit der größten Selbstverständlichkeit taten, ohne Gegenleistungen zu verlangen, wurde hier mehr die Mutter von den Töchtern verwöhnt. Sie nannten sie „Katerchen“ und nahmen ihr möglichst viel von den häuslichen Arbeiten ab; sie waren dazu viel besser angehalten als wir, beide tüchtig und gewandt.

Da die Agenturen des Vaters für den Unterhalt der Familie nicht ausreichten, fingen beide Mädchen auch schon sehr früh an mitzuverdienen, Rose durch Mathematikstunden, Hede durch Musikunterricht. Sie war stets überlastet und oft von Krankheiten heimgesucht, Hede besonders litt schon als junges Mädchen an quälenden Anfällen von Herzasthma. Rose war von schlanker, ebenmäßiger Gestalt und wußte sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden. Ihr schönster Schmuck aber waren zwei lange und schwere glänzendschwarze Zöpfe, die sie einfach um den Kopf geschlungen trug. Sie hatte eine große Anziehungskraft. Sie hatte nicht Lillis lebhafte und warmherzige Art, die jedem Menschen mit ungezwungener Herzlichkeit entgegenkam. Fremden gegenüber war sie zurückhaltend und fast abstoßend; in unserer Familie konnte sich darum außer Erna und mir niemand für sie erwärmen. Menschen, an denen ihr etwas lag, gewann Rose durch ihre außerordentliche Gabe, auf andere einzugehen. Sie verstand vorzüglich zuzuhören, so daß man sich ihr gern anvertraute. In wissenschaftlichen Gesprächen faßte sie die Gedanken anderer schnell und leicht auf und konnte mit großer Redegewandtheit darauf eingehen. Unleugbar und ganz ungewöhnlich war ihr Lehrtalent und ihr starker Einfluß auf ihre Schülerinnen. Als Hans Biberstein und Rose sich kennenlernten, fühlten sich beide stark zueinander hingezogen. Erna, die von Natur aus keineswegs zu

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/87&oldid=- (Version vom 31.7.2018)