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mit stark schlesischem Anklang, wie es in den „besseren“ Kreisen bei uns durchaus nicht üblich ist. Der Unterschied der Abstammung und des Standes sprang auf den ersten Blick hervor, wurde aber auf beiden Seiten keineswegs als störend empfunden. Seine hervorragende mathematische Begabung sicherte ihm die Achtung der Kommilitonen. Er war hell und geweckt, humorvoll und fröhlich wie ein Kind; in unserm Kreis bewegte er sich mit der größten Ungezwungenheit, auch in Gegenwart der Mutter. Den Höhepunkt unserer geselligen Zusammenkünfte bildete der Sylvesterabend, den die vier Familien jahrelang zusammen feierten. Er wurde als „Picknick“ gestaltet, d.h. alle trugen etwas zur Bewirtung und Unterhaltung bei. Diese gemeinsame Sylvesterfeier war bei Guttmanns und Plataus schon eingeführt, ehe wir sie kennenlernten; als wir hinzukamen, wurde sie in unser Haus verlegt, weil wir die größten Räume hatten. Frau Guttmann verstand es vorzüglich, so etwas zu arrangieren. Sie konnte Knittelverse dichten, im Plakatstil malen und kleine Aufführungen einstudieren. Für Tafellieder und Bierzeitung sorgten besonders Hans Biberstein und ich. So mußte jeder der Anwesenden darauf gefaßt sein, an diesem Abend tüchtig hergenommen zu werden, und die Ereignisse des abgelaufenen Jahres zogen noch einmal in heiteren Bildern an uns vorüber.

Unsere größte Freude im Sommer war seit früher Kindheit ein Familienausflug ins Freie. Meine Mutter mietete dafür einen großen Wagen, und dann ging es an einem Sonntag früh hinaus in den Wald; Proviant wurde mitgenommen, so daß man im Waldlager zu Mittag essen konnte. Es war immer dafür gesorgt, da außer für den engsten Familienkreis noch für eine Reihe von Gästen Platz war. Früher waren das unsere Vettern und Cousinen, jetzt wurden die befreundeten Familien eingeladen. Wenn wir abends heimkamen, stiegen alle bei uns ab; man reinigte sich von dem Staub des Tages, und dann gab es ein einfaches Abendessen. Meine Mutter ließ nicht gern einen Gast unbewirtet aus dem Hause gehen, aber sie liebte auch nicht, „viel herzumachen“; es sollten sich alle zu Hause fühlen und nicht den unbehaglichen Eindruck haben, als würde nun ihretwegen alles auf den Kopf gestellt. Die ungeladenen Gäste waren auch nicht anspruchsvoll, sondern ließen sich Tee oder Milch, Butterbrot und Obst gut schmecken. Am meisten Anklang fand stets das kräftige Roggenbrot, das meine Mutter nach oberschlesischer Sitte immer noch selbst buk.

In den Sommerferien 1911 und 1912, als wir alle in Breslau studierten, ging das vierblättrige Kleeblatt auch zusammen für einige Wochen ins schlesische Gebirge. Das erstemal wählten wir Groß-Aupa als Hauptquartier, ein langgezogenes Dorf auf der

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/90&oldid=- (Version vom 31.7.2018)