Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/91

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

böhmischen Seite des Riesengebirges. Es lag weit von der Bahnstrecke entfernt, von Johannesbad führte ein Postauto hin. Außer uns waren, wenn ich mich recht erinnere, gar keine Sommergäste da; wir beherrschten das ganze Dorf. Wenn wir abends bei Mondlicht die Dorfstraße entlang gingen und mit kräftiger Stimme unsere Studentenlieder sangen, horchten in allen Häusern die Leute auf. Einmal wurden wir sogar von den Honoratioren des Ortes gebeten, abends ins Gasthaus zu kommen, wo sie am Stammtisch saßen, und ihnen dort vorzusingen. Wir nahmen die Einladung unbedenklich an, unsere harmlose Fröhlichkeit war für die biederen Leute in diesem stillen Erdenwinkel eine ungewöhnliche Abwechslung.

Auch auf dieser Reise waren wir nicht allein. Frau Guttmann und ihre unverheiratete Schwester, die an Basedow litt, hatten sich angeschlossen. Wir wohnten im Hause eines Bäckers und hatten für sehr wenig Geld mehrere Zimmer zur Verfügung. Die beiden Damen kochten selbst, wir andern aßen Mittag im Gasthaus, für ein einfaches Frühstück und Abendessen sorgten wir selbst. Für einen Teil der Zeit schickte unsere Mutter Frieda zu uns. Es war nicht lange nach der Trennung von ihrem Mann; sie war noch recht bedrückt von dem, was hinter ihr lag, und sollte etwas Ablenkung und Erholung haben. Dazu kamen noch andere Gäste, die uns für kürzer oder länger aufsuchten. Eine Schulgefährtin von Lilli und Rose wurde uns von den besorgten Eltern anvertraut, weil sie von unserer Gesellschaft einen günstigen Einfluß erhofften. Es war ein liebes, stilles Mädchen, das damals anfing, einige Sonderbarkeiten im Verhalten zu zeigen: die ersten Vorboten einer dementia praecox, die nicht lang danach zum Ausbruch kam. Eine sehr muntere Gefährtin war dagegen Lotte Baerthold aus Sagau. Sie hatte mit Erna zusammen das Gymnasium besucht. In diesen Jahren war sie in Breslau in Pension und war fast täglich bei uns, um mit Erna zu arbeiten. Dafür mußte meine Schwester einmal in den Ferien Gast in ihrem Elternhause sein. Ihr Vater hatte in Sagau eine Tuchfabrik; er war ein begeisterter Politiker, echter alter Liberaler, lange Zeit hindurch Stadtverordneter. Die Mutter war eine gütige, liebenswürdige Frau von mädchenhafter Anmut. Lotte war die einzige Tochter, sie hatte nur einen älteren und einen jüngeren Bruder. Sie wurde vorzüglich erzogen, hatte tadellose Umgangsformen, wie sie in guten protestantischen Familien besonders gepflegt wurden, war dabei aber einfach und natürlich geblieben, lebhaft und fröhlich. Mit ungezwungener Herzlichkeit schloß sie sich an uns an; auch diese freundschaftlichen Beziehungen blieben durchs ganze Leben erhalten. Da die Eltern öfters in Breslau zu tun hatten, lernten wir auch sie allmählich kennen; und ich bin später oft in ihrem behaglichen,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/91&oldid=- (Version vom 31.7.2018)