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gastlichen Hause eingekehrt, wenn ich auf dem Heimweg nach Breslau nach langer Bahnfahrt in Sagau Aufenthalt hatte. Lotte entschloß sich nach dem Abitur für das Studium der neuen Sprachen. Sie studierte ein Semester in Berlin und eins in Paris; auf der Fahrt dorthin war ihr ein Mitreisender, ein junger Ingenieur, behilflich. Er suchte sie dann in Paris auf und kam öfters mit ihr zusammen. Als sie am Ende des Semesters nach Hause zurückkehrte, reiste er ihr nach und hielt bei den Eltern um ihre Hand an. Im Sommer 1911 stand sie vor der Hochzeit und sollte sich von den Anstrengungen der Brautzeit noch etwas erholen. Dazu kam sie zu uns nach Groß-Aupa. Andere Bekannte, die ihre Ferien im Gebirge verbrachten, suchten uns gelegentlich für einen Tag oder ein paar Stunden auf. Eine lustige Medizinerin, die uns besuchen wollte, fragte auf der Dorfstraße, in welchem Hause die vielen Fräuleins wohnten, und wurde sofort zu uns gewiesen. Unser Häuschen lag unmittelbar an dem schmalen Aupaflüßchen. Durch die Hintertür kam man direkt ans Wasser. Am andern Ufer war ein grasbedeckter Abhang; wenn wir uns dort lagern wollten, mußten wir auf den flachen Steinen hinüberbalancieren. Das war morgens gewöhnlich unsere erste Übung. Frau Guttmann begleitete dieses Manöver oft mit kleinen Angstrufen um ihre Kissen und Decken, die wir mit hinübernahmen.

Ehrensache war es auch, täglich einmal den steilen Abhang hinaufzuklettern. Dieser Prüfung mußten sich auch unsere Gäste unterziehen. Um bequem liegen zu können, hatten wir alle unsere Ferienfrisuren. Ich trug Schnecken über den Ohren. Die drei andern, die lange und schwere Zöpfe hatten, schlangen sie nicht zur Gretchenfrisur um den ganzen Kopf, sondern vorn über der Stirn mehrmals hin und her, um den Nacken frei zu behalten. Wir hatten uns für die Ferienwochen ausreichend mit Büchern versehen, und jede vertiefte sich in das ihre, während wir draußen lagen. Ich erinnere mich, daß Rose Nietzsches Zarathustra mithatte. Manchmal unterbrach sie sich und rief mich zur Hilfe: „Kücken, du bist doch so gescheit. Kannst du mir sagen, was das bedeutet?“ „Kücken“ nannten sie mich, weil ich die Jüngste im Kleeblatt war. Außerdem sah ich so jung aus, daß Frau Guttmann öfters sagte, wenn wir wieder nach Breslau kämen, würden sie mich für die Schule anmelden. Ich stand damals am Ende meines ersten Semesters und hatte als Ferienlektüre Spinozas Ethik mitgenommen. Ich trennte mich niemals von dem kleinen Büchlein. Wenn wir in den Wald hinaus gingen, trug ich es in der Tasche meines regendichten Wettercapes; und während die andern sich unter den Bäumen lagerten, suchte ich mir in ihrer Nähe eine Hirschkanzel und kletterte ganz oben hinauf; dort ließ ich mich nieder und vertiefte mich abwechselnd

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/92&oldid=- (Version vom 31.7.2018)