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in die Deduktionen über die eine Substanz und in den Ausblick auf Himmel, Berge und Wälder.

Einmal durfte uns auch Hans Biberstein von Bad Reinerz aus besuchen. Seine Mutter gab ihm einige Tage Urlaub für einen größeren Ausflug. Er holte uns ab, und wir besuchten zusammen die Felsenstadt von Adersbach-Weckelsdorf. Im nächsten Jahr war die Rücksicht auf ihn schon so beherrschend, daß wir als Ferienaufenthalt einen Ort in der Nähe von Reinerz wählten: Grunwald an der hohen Meuse, das höchstgelegene Dorf in Preußen. Erna und ich kannten es schon aus unserer Kinderzeit: wir hatten einmal mit unserer Schwester Else und unserer Schwägerin Trude eine Ferienreise dorthin gemacht; das war das erstemal, daß ich richtige Berge zu sehen bekam. Wir hatten aber diesen Aufenthalt in wenig angenehmer Erinnerung, denn die beiden unternehmungslustigen jungen Damen hatten damals die beiden Kinder einigemal bei sehr schmaler Kost den ganzen Tag sich selbst überlassen. Wir wohnten im Lehrerhaus, und es geschah uns nichts Schlimmes. Aber wir bekamen es doch schließlich satt, Blaubeeren zu suchen und Honigbrote zu essen, die von einer Mahlzeit zur andern immer trockener wurden, und die Tage dehnten sich endlos in die Länge.

Diesmal wohnten wir im Gasthaus. Es gab außer uns noch einen Kurgast, Bürgermeister Westram aus Ratibor. Er war ein älterer Herr, dem aber die Gesellschaft von vier jungen Kommilitoninnen sehr willkommen war. Er schrieb uns noch jahrelang Briefe und hat uns später einmal einen wichtigen Dienst geleistet. Ehe wir nach Grunwald hinaufgingen, hielten wir uns einige Tage in Altheide auf. Dort trafen wir unsere Schwester Eise, die mit einer Tante zur Erholung von Breslau aus hingefahren war und nun vor der Heimreise stand. Ein größeres Ereignis aber war, daß wir unsere Mutter überredet hatten, mit uns zu kommen. Sie machte sonst nie eine Badereise, hatte überhaupt nie im Leben größere Reisen gemacht.

Die Ungunst der Zeit hatte sie um die Hochzeitsreise gebracht (sie heiratete 1871); damals versprach ihr mein Vater, später einmal die Hochzeitsreise nachzuholen, aber da bald Kinder kamen, eins schnell nach dem andern, war das nicht mehr möglich. Wenn sie davon sprach, pflegte sie uns in Aussicht zu stellen, sie werde noch einmal mit uns die versäumte Hochzeitsreise nachholen, und nun nahmen wir sie beim Wort. Sie kam also mit und fühlte sich sehr wohl. Unser Haus lag unmittelbar am Waldrand, und sie war immer sehr empfänglich für Naturschönheit. Aber nach drei Tagen war sie nicht mehr zu halten und fuhr zurück. Wir setzten dann unsern Weg nach Reinerz fort und fuhren von dort im Wagen zu viert mit unserm Gepäck hinauf auf unsern Höhensitz. Diesmal kam

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/93&oldid=- (Version vom 31.7.2018)