Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/95

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

wir drei friedlichen Hinterdreinmarschierenden allen Zwist und freuten uns miteinander. Dazu gab es noch einige komische Intermezzos, die in den folgenden Jahren noch viel Stoff für Tischlieder, Bierzeitungen und dergleichen gaben. Am ersten Abend kamen wir spät bei Nacht in Ramsau an. Von dort aus sollte am nächsten Morgen die Altvaterwanderung beginnen. Auf dem Bahnsteig war es stockdunkel. Mit Hilfe einer Taschenlaterne tasteten wir uns nach dem Ausgang und zu dem entlegenen Gasthaus. Es war schon stark besetzt: Hans wurde in einem taubenschlagähnlichen Zellchen auf dem Hof untergebracht. Wir vier Mädchen bekamen alle zusammen ein Zimmer. Als wir nach dem späten Abendessen in der Gaststube dorthin gewiesen wurden, mußten wir durch ein anderes Zimmer hindurchgehen, in dem zwei Herren und eine Dame gerade im Begriff waren, sich auszukleiden. Wir bedauerten die Leidensgefährtin und priesen uns glücklich, daß man uns wenigstens nicht zugemutet hatte, unseren schmollenden Kavalier mit bei uns zu beherbergen. Es stand nämlich noch ein fünftes Bett in unserm Zimmer. Da die Verbindungstür zu den Nachbarn nicht verschließbar war, ergriffen wir dieses Bett und schoben es davor. Als wir nach allen Anstrengungen, Aufregungen und Abenteuern dieses langen Tages endlich auf ein wenig Schlaf hofften, machten sich bei Lilli unliebsame Nachwirkungen der ungewohnten Reisekost bemerkbar. Mehr als Übelkeit und Schmerzen quälte sie der Umstand, daß auch unsere Nachtruhe dadurch gestört wurde. Wir atmeten alle auf, als der neue Tag uns aus unserm Gefängnis befreite. Wieder ging es bergauf und bergab, von morgens bis abends. Diesmal aber erreichten wir noch vor Einbruch der Nacht einen wirklichen Ruheort, das liebliche Karlsbrunn.

Es wurden uns von der Kurverwaltung in einem reizenden Häuschen saubere und nette Zimmer angewiesen. Als wir hier nach gründlicher Reinigung richtig rasten konnten, fühlten wir uns wie im Himmel. Von der beschwerlichen Schlußwanderung am nächsten Tag erzählte ich soeben. Sie endete an einer Bahnstation, wo wir feststellen mußten, daß der K.K. österreichische Bahndienst sich um Kursbücher wenig kümmerte. Der fahrplanmäßige Zug ging nicht, wir mußten stundenlang warten und konnten Rose nicht zur verabredeten Zeit in Mittelwalde erreichen. Ein Bahntelegramm sollte sie davon in Kenntnis setzen. Als wir wiederum spät am Abend endlich in Mittelwalde anlangten – mit dem letzten Zug, der überhaupt einlief –, war von Rose nichts zu sehen. Wir schlugen den Weg zum nächsten Hotel ein. Es war kein Zimmer mehr frei. Wohl wären in manchen Zimmern noch leere Betten, aber man könnte die Gäste nicht wecken, um noch jemand bei ihnen einzuquartieren. Wir

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/95&oldid=- (Version vom 31.7.2018)