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um allen Staub der Landstraße und Eisenbahn loszuwerden. Dann saßen wir wieder zu viert in einem geschlossenen Wagen und fuhren nach Grunwald hinauf. Wir atmeten innerlich auf, daß wir wieder unter uns waren, aber es wurde unterwegs kaum gesprochen. Erna saß kleinlaut unter uns in dem Gefühl, von allen für schuldig gehalten zu werden. Als wir oben anlangten, kniete sie gleich in der Gaststube vor mir nieder und zog mir den schweren Wanderschuh von dem dick angeschwollenen Fuß. Nach dem Mittagessen wurde ich zu Bett gebracht, die beiden Medizinerinnen legten einen kunstgerechten Verband an und lagerten den Fuß hoch. Dann gingen Rose und Lilli etwas spazieren; Erna setzte sich zu mir auf den Bettrand und las mir aus Goethes Briefen vor. Nach einiger Zeit kamen die beiden andern sehr frisch und vergnügt zurück. Rose holte eine dicke Tafel Lindt-Schokolade, die sie aus Gräfenberg für uns mitgebracht hatte. Das Kleeblatt machte sich darüber her, und mit diesem Schmaus wurde die Versöhnung vollzogen, ohne daß noch ein Wort über das Vergangene gesprochen wurde. Wie der Frieden diesmal mit Hans geschlossen wurde, daran erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls hat es nicht lange gedauert, bis die Freundschaft wiederhergestellt war. Wir waren immer schnell bereit zu gütlicher Einigung. Aber solche Vorfälle machten uns doch sehr nachdenklich und besorgt um das Los, das Erna erwartete.

Wir vier hatten bei diesen Gebirgsaufenthalten zwei Zimmer mit zwei Betten; Erna und Lilli bewohnten das eine, Rose und ich das andere. In Grunwald lag das Zimmer des Herrn Bürgermeisters zwischen den unsern, und er konnte durch die Wände hören, wie auf der einen Seite medizinische Lehrbücher gemeinsam durchgearbeitet wurden, auf der andern Seite die Grundfragen der Mathematik und theoretischen Physik behandelt. Wir wechselten aber auch manchmal die Kombinationen, damit jede mit jeder sich einmal gründlich aussprechen konnte; denn dafür waren die stillen Abendstunden am geeignetsten, und der Gedankenaustausch ging meist bis tief in die Nacht hinein. Ich weiß nicht mehr im einzelnen, was wir uns in diesen vielen und ausgedehnten Gesprächen zu sagen hatten. Jedenfalls ging uns der Stoff niemals aus und wir kannten nichts Schöneres als so die Herzen zu öffnen. Meist handelte es sich um die Geschichte des Kleeblatts und der Menschen, die ihm nahestanden, um Zukunftspläne, die Gestaltung unseres eigenen Lebens und die Ideale, denen wir durch unser Wirken in der Welt zum Siege verhelfen wollten.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/97&oldid=- (Version vom 31.7.2018)