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Einleitung

Kraft einer heiligen Seele in dieser Weise die Glaubenswahrheiten auf, so wird sie zur Wissenschaft der Heiligen. Wird das Geheimnis vom Kreuz ihre innere Form, dann wird sie zur Kreuzeswissenschaft.

Eine gewisse Verwandtschaft mit der heiligen Sachlichkeit hat die Sachlichkeit des Kindes, das noch mit ungeschwächter Kraft und Lebendigkeit und mit hemmungsfreier Unbefangenheit Eindrücke empfängt und beantwortet. Allerdings wird natürlicherweise die Antwort keineswegs immer die vernunftgemäße sein. Dazu mangelt noch die Reife der Einsicht. Außerdem fehlt es, sobald die Erkenntnis in Tätigkeit tritt, auch nicht an inneren und äußeren Quellen des Irrtums und der Täuschung, die in verkehrte Bahnen lenken. Entsprechende Umweltseinflüsse können vorbeugend wirken. Die Kindesseele ist weich und bildsam. Was in sie eindringt, kann leicht fürs ganze Leben formgebend sein. Wenn die Tatsachen der Heilsgeschichte schon in früher Kindheit und in geeigneter Form an die Seele herantreten, so kann dadurch leicht die Grundlage für ein heiliges Leben gelegt werden. Bisweilen treffen wir auch auf eine frühe außerordentliche Gnadenerwählung, so daß kindliche und heilige Sachlichkeit sich verbinden. So wird von der hl. Brigitta berichtet, sie habe im Alter von 10 Jahren zum erstenmal vom Leiden und Sterben Jesu gehört; in der Nacht darauf sei ihr der Heiland am Kreuz erschienen; seitdem habe sie niemals das Leiden des Herrn betrachten können, ohne Tränen zu vergießen.

Bei Johannes ist noch ein drittes in Betracht zu ziehen: er war eine Künstlernatur. Unter den verschiedenen Handwerken und Künsten, in denen sich der Knabe versuchte, waren die des Bildschnitzers und Malers. Wir haben aus späterer Zeit noch Zeichnungen von ihm. (Allgemein bekannt ist eine Skizze des Aufstieges zum Berge Karmel.) Er hat als Prior in Granada den Musterbau eines beschaulichen Klosters geschaffen. Und er war ebensosehr Dichter wie bildender Künstler. Es war ihm Bedürfnis, in Liedern auszusprechen, was in seiner Seele geschah. Seine mystischen Schriften sind nur nachträgliche Erklärungen des unmittelbaren dichterischen Ausdruckes. So haben wir bei ihm auch noch mit der eigentümlichen Sachlichkeit des Künstlers zu rechnen. In der ungebrochenen Kraft der Eindrucksfähigkeit ist der Künstler dem Kinde und dem Heiligen verwandt. Aber – im Gegensatz zur heiligen Sachlichkeit – ist es eine Eindrucksfähigkeit, die die Welt im Licht eines bestimmten Wertbereiches – und leicht auf Kosten anderer – sieht. Dem entspricht eine eigentümliche Art des antwortenden Verhaltens. Es ist dem Künstler eigen, daß das, was ihn innerlich berührt, sich in

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/005&oldid=- (Version vom 31.7.2018)