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Die Botschaft des Kreuzes

alles das, was wir sinnbildlich unter dem Namen Kreuz zusammenfassen, alle Lasten und Leiden des Lebens, müssen mit zur Kreuzesbotschaft gerechnet werden, weil daraus die tiefste Kreuzeswissenschaft zu gewinnen ist. Der Heilige hat Leid und Neid schon von den ersten Kinderjahren an kennen gelernt. Der frühe Tod des Vaters, der Kampf der Mutter um das tägliche Brot für ihre Kinder, seine eigenen immer wieder scheiternden Bemühungen, etwas zum Unterhalt der Familie beizutragen – all das muß in dem zarten Kinderherzen tiefen Eindruck gemacht haben, aber es ist uns nichts darüber aufgezeichnet. Ebenso wenig wissen wir über die seelische Auswirkung der Krisen in den ersten Ordensjahren.

Über die spätere Zeit liegen Berichte vor, die etwas mehr Einblick in das innere Leben gewähren. Eines Abends kam Johannes in Avila zur Zeit des Angelusläutens nach dem Beichthören aus der Klosterkirche und betrat den kleinen Pfad nach dem Häuschen, das er mit seinem Gefährten P. Germanus bewohnte. Da stürzte sich plötzlich ein Mann auf ihn und bearbeitete ihn so mit Stockschlägen, daß er zu Boden stürzte. (Das war die Rache eines Liebhabers, dem er seine Beute entrissen hatte.)

Als Johannes dieses Abenteuer erzählte, fügte er hinzu, er habe in seinem ganzen Leben noch nicht so süßen Trost empfangen: er war behandelt worden wie der Heiland selbst und hatte die Süßigkeit des Kreuzes erfahren.

Überreiche Gelegenheit dazu bot die Zeit der Gefangenschaft in Toledo. Der Heilige hatte die Reform in Durvelo begonnen, war mit der heranwachsenden klösterlichen Gemeinde nach Mancera übergesiedelt, hatte dann im Noviziat zu Pastrana gewirkt und schießlich das erste Ordenskolleg zu Alcala geleitet. 1572 berief ihn die hl. Mutter nach Avila, um ihr bei einer schweren Aufgabe beizustehen. Sie hatte den Auftrag erhalten, als Priorin ins Kloster der Menschwerdung zurückzukehren, aus dem sie hervorgegangen war; sie sollte unter Beibehaltung der gemilderten Regel die Mißstände, die dort eingerissen waren, beseitigen und die große Kommunität zu einem wahrhaft geistlichen Leben führen. Dazu schien es ihr unerläßlich, für gute Beichtväter zu sorgen. Sie konnte keinen geeigneteren finden als Johannes, dessen große Erfahrung im inneren Leben sie kannte. Von 1572-1577 wirkte er hier mit reichstem Ertrag für die Seelen. Während er so in aller Stille tätig war, hatte das Reformwerk draußen große Fortschritte gemacht. Die hl. Mutter reiste von einer Klosterstiftung zur anderen. Auch neue Männerklöster der Reform waren entstanden. Glänzende Persönlichkeiten waren in den Orden eingetreten und hatten die äußere Leitung

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/021&oldid=- (Version vom 31.7.2018)