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Kreuzeslehre

uns gekommen[1]. Trotz dieser Lücken und mancher durch sie bedingten unlösbaren Fragen sind in dem, was uns als unschätzbares Vermächtnis unseres heiligen Vaters erhalten ist, die leitenden Gedanken so klar, daß auf unsere Frage wohl eine Antwort zu erhoffen ist.

Für die erhaltenen Schriften ist der eigentliche Ursprung in der Zeit der Gefangenschaft in Toledo zu suchen. Innerste Erfahrung ist der Quell, dem sie entspringen. Seligkeit und Qual eines von Gott heimgesuchten und verwundeten Herzens finden ihren ersten Ausdruck im lyrischen Bekenntnis: die ersten 30 Strophen des Geistlichen Gesanges sind im Kerker entstanden, vielleicht auch das Gedicht von der Dunklen Nacht, das sowohl der danach benannten Schrift als dem Aufstieg zu Grunde liegt[2]. Johannes brachte sie aus dem Kerker mit (ob nur im Gedächtnis bewahrt oder in einem Heft aufgezeichnet – darüber liegen verschiedene Zeugnisse vor) und machte vertraute Seelen damit bekannt. Der Bitte geistlicher Söhne und Töchter haben wir die erklärenden Abhandlungen zu danken. In ihnen wird die Erfahrung aus der Sprache des Dichters in die des philosophisch und theologisch geschulten Denkers übersetzt, aber doch mit sehr sparsamem Gebrauch scholastischer Fachausdrücke und reichlicher Verwendung lebensnaher Bilder. Es wird ferner die Erfahrungsgrundlage verbreitert: das Selbsterlebte wird ergänzt durch das, was dem Meister in der Seelenführung aus tiefem Einblick in das Innenleben anderer Menschen bekannt ist. Das schützt ihn vor Einseitigkeit und falschen Verallgemeinerungen. Er rechnet immer mit der großen Mannigfaltigkeit möglicher Wege und der zarten und leicht beweglichen Anpassung der Gnadenführung an die besonderen Bedingungen der einzelnen Seele. Eine immer fließende Quelle der Belehrung über die Gesetze des inneren Lebens ist ihm schließlich die Heilige Schrift. Er findet in ihr die sichere Bestätigung dessen, was ihm aus innerster Erfahrung bekannt ist. Andererseits öffnet ihm die eigene Erfahrung die Augen für die mystische Bedeutung der heiligen Bücher. Die kühnen Bildersprache der Psalmen, die Parabeln des Herrn, selbst die geschichtlichen Erzählungen des Alten Testaments – alles wird ihm durchsichtig und gibt ihm immer reichlicheren und tieferen Einblick in das Eine, worauf es ihm ankommt: den Weg der Seele zu Gott und Gottes Wirken in der Seele.


  1. Auf die Streitfrage ob sie niemals vollendet oder nachträglich verstümmelt wurden, gehen wir hier nicht ein.
  2. Auch noch andere Gedichte stammen aus der Gefangenschaft, aber es kommt uns vorläufig nur auf die an, die Ausgangspunkt für die Abhandlungen waren.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/030&oldid=- (Version vom 3.8.2020)