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Einleitung: Johannes vom Kreuz als Schriftsteller

Gott hat die Menschenseelen für sich erschaffen. Er will sie mit sich selbst vereinigen und ihnen die unermeßliche Fülle und unfaßbare Seligkeit Seines eigenen, göttlichen Lebens schenken: schon in diesem Leben. Das ist das Ziel, worauf Er sie hinlenkt und dem sie selbst mit all ihren Kräften zustreben sollen. Aber der Weg dahin ist eng und steil und mühsam. Die meisten bleiben auf der Strecke. Wenige gelangen über die ersten Anfänge hinaus, eine verschwindend kleine Anzahl ans Ziel. Daran sind die Gefahren des Weges schuld – Gefahren von seiten der Welt, des bösen Feindes und der eigenen Natur, aber auch Unkenntnis und Mangel an geeigneter Führung. Die Seelen verstehen nicht, was in ihnen vorgeht, und selten findet sich jemand, der ihnen dafür die Augen öffnen könnte. Ihnen bietet sich Johannes als kundiger Führer an. Er hat Erbarmen mit den Irrenden, und es ist ihm leid um Gottes Werk, das an solchen Hindernissen scheitert. Er will und kann helfen, denn er kennt in dem geheimnisvollen Reich des inneren Lebens alle Wege und Stege. Es ist ihm gar nicht möglich, alles zu sagen, was er darüber weiß; er muß sich beständig Zügel anlegen, um nicht über das hinauszugehen, was die Aufgabe erfordert.

Der Heilige hat seine Werke nicht für jedermann geschrieben. Er will gewiß niemanden ausschließen. Aber er weiß, daß er nur bei einem bestimmten Kreis von Menschen auf Verständnis rechnen kann: bei denen, die schon eine gewisse Erfahrung im inneren Leben haben. In erster Linie denkt er an die Karmeliten und Karmelitinnen, deren eigentlichster Beruf das innerliche Gebet ist. Aber er weiß, daß Gottes Gnade nicht an Ordenskleid und Klostermauern gebunden ist. Einer seiner geistlichen Töchter „in der Welt“ verdanken wir ja die Schrift über die Lebendige Liebesflamme. Für beschauliche Seelen also schreibt er, und an einem ganz bestimmten Punkt ihres Weges will er sie an die Hand nehmen: an einem Scheideweg, wo die meisten ratlos stehen bleiben und nicht weiter wissen. Auf dem Weg, den sie bisher gegangen sind, treten ihnen unübersteigbare Hindernisse entgegen. Der neue Weg aber, der sich vor ihnen auftut, führt durch undurchdringliches Dunkel – wer hat den Mut, sich da hinein zu wagen? Der Scheideweg, um den es sich handelt, ist der von Betrachtung und Beschauung (Meditation und Kontemplation). Man hat bisher, vielleicht nach ignatianischer Methode, in den Betrachtungsstunden die seelischen Kräfte geübt – Sinne, Einbildungskraft, Gedächtnis, Verstand, Willen. Aber nun versagen sie den Dienst. Alle Bemühungen sind umsonst. Die geistlichen Übungen, sonst eine Quelle innerer Freude, werden zur Qual, unerträglich öde und fruchtlos. Es besteht aber auch keine Neigung,

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/031&oldid=- (Version vom 3.8.2020)