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Unterschied im Symbolcharakter: Wahrzeichen und kosmischer Ausdruck

es sieht, der wird dadurch unmittelbar auf das Urbild hingelenkt, das er darin wiedererkennt oder daraus kennen lernt. Zwischen Zeichen und Bezeichnetem bedarf es keiner inhaltlichen Übereinstimmung. Ihre Beziehung ist durch eine willkürliche Setzung gestiftet, über diese Setzung muß man unterrichtet sein, um das Zeichen zu verstehen. Das Kreuz ist offenbar kein Bild im eigentlichen Sinn. (Wenn man es ein Sinnbild nennt, so besagt das nicht viel mehr als Symbol in der soeben umschriebenen weiten Bedeutung: ein Anschauliches, das auf einen über das Anschauliche hinausliegenden Sinn hinweist.) Zwischen Kreuz und Leiden besteht keine unmittelbar faßliche Ähnlichkeit, aber auch kein rein willkürlich festgesetztes Zeichenverhältnis. Dem Kreuz ist seine Bedeutung durch seine Geschichte zugewachsen. Es ist kein bloßer Naturgegenstand, sondern ein Werkzeug, von Menschenhand zu einem ganz bestimmten Zweck verfertigt und gebraucht. Als Werkzeug hat es in der Geschichte eine Rolle von unvergleichlicher Tragweite gespielt. Von dieser Rolle weiß jeder etwas, der im christlichen Kulturkreis lebt. Darum führt das Kreuz durch seine anschauliche Gestalt unmittelbar hinein in die Sinnfülle, die damit verwoben ist. Es ist also ein Zeichen, aber eines, dem seine Bedeutung nicht künstlich angeheftet ist, sondern wahrhaft zukommt auf Grund seiner Wirksamkeit und seiner Geschichte. Seine sichtbare Gestalt weist auf den Sinnzusammenhang hin, in dem es steht. Dem werden wir gerecht, wenn wir es ein Wahrzeichen nennen.

Die Nacht dagegen ist etwas Naturhaftes: das Gegenspiel des Lichtes, uns und alle Dinge einhüllend. Sie ist kein Gegenstand im eigentlichen Wortsinn: sie steht uns nicht gegenüber und steht auch nicht auf sich selbst. Sie ist auch kein Bild, sofern man darunter eine sichtbare Gestalt versteht. Sie ist unsichtbar und gestaltlos. Und doch nehmen wir sie wahr, ja sie ist uns viel näher als alle Dinge und Gestalten, ist mit unserem Sein viel enger verbunden. Wie das Licht die Dinge mit ihren sichtbaren Eigenschaften hervortreten läßt, so verschlingt sie die Nacht und droht auch uns zu verschlingen. Was in ihr versinkt, das ist nicht einfach nichts: es bleibt bestehen, aber unbestimmt, unsichtbar und gestaltlos wie die Nacht selbst oder schattenhaft und gespenstisch und darum bedrohlich. Dabei ist unser eigenes Sein nicht nur durch die in der Nacht verborgenen Gefahren von außen bedroht, sondern durch die Nacht selbst innerlich betroffen. Sie nimmt uns den Gebrauch der Sinne, hemmt unsere Bewegungen, lähmt unsere Kräfte, bannt uns in Einsamkeit, macht uns selbst schattenhaft und gespenstisch. Sie ist wie ein Vorgeschmack des Todes. Und all das hat nicht nur vitale sondern auch

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/033&oldid=- (Version vom 7.6.2021)