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Kreuz und Nacht (Nacht der Sinne)

allerdings, bei der das beiderseits „Gleiche“ nicht eigentlich faßbar ist, sondern nur durch gewisse übereinstimmende Züge angedeutet werden kann. Unterscheidend gegenüber dem Bildverhältnis ist nicht nur die mangelnde Abbildlichkeit, sondern auch der Umstand, daß wir es nicht mit Gebilden zu tun haben, mit fest umrissenen Gestalten. Darin liegt auch ein Gegensatz zum mimischen Ausdruck: einer ganz bestimmten Veränderung des Gesichts, die der Künstler mit Stift oder Pinsel nachzeichnen kann, entspricht ein ebenso bestimmter seelischer Vorgang. Die Nacht aber, die kosmische wie die mystische, ist etwas Gestaltloses und etwas Umfassendes, was sich in der Fülle seines Sinnes nur andeuten, aber nicht ausschöpfen läßt. Eine ganze Weltsicht und Daseinsverfassung ist darin beschlossen. Eben darin besteht das Gemeinsame: in der Tatsache und der Eigenart dieser Weltsicht und Daseinsverfassung. Ein Unfaßbares hier und ein Unfaßbares dort und doch soweit deutlich, daß eines mit dem andern in Deckung gebracht und als Zugang zum andern verwendet werden kann, nicht in willkürlicher Wahl und planmäßiger Vergleichung, sondern in symbolischer Erfahrung, die auf Urzusammenhänge stößt und dadurch für begrifflich Unsagbares einen notwendigen bildhaften Ausdruck findet.

Wir sind jetzt imstande, den Unterschied im Symbolcharakter von Kreuz und Nacht kurz zusammenzufassen: das Kreuz ist das Wahrzeichen alles dessen was mit dem Kreuz Christi in ursächlichem und geschichtlichem Zusammenhang steht. Nacht ist der notwendige kosmische Ausdruck der mystischen Weltsicht des hl. Johannes vom Kreuz. Das Überwiegen des Nacht-Symbols ist ein Zeichen dafür, daß in den Schriften des heiligen Kirchenlehrers nicht der Theologe, sondern der Dichter und Mystiker das Wort führte, wenn auch der Theologe Gedanken und Ausdruck gewissenhaft überwachte.


2. Das Lied von der Dunklen Nacht

Es gilt nun, die mystische Nacht zu erforschen, um in ihr den Widerhall der Botschaft vom Kreuz zu vernehmen. Wir werden dabei am besten das Lied von der Dunklen Nacht zum Ausgangspunkt wählen: es liegt ja den beiden großen Traktaten zugrunde, die sich mit der mystischen Nacht beschäftigen[1].


  1. Text der E. Cr. III 157. Die Übersetzung ist mit Hilfe der verschiedenen Übertragungen in der deutschen Ausgabe des Theatinerverlages und einer wortgetreuen flämischen (Cyriel Verschaeve, Schoonheid en Christendom, Brügge 1938, S. 57 f.) dem Urtext möglichst genau angepaßt.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/036&oldid=- (Version vom 3.8.2020)