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Aktives Eingehen in die Nacht als Kreuzesnachfolge

das Erfülltsein von den Genüssen, die sie bietet, das Verlangen nach diesen Genüssen und das selbstverständliche Jasagen zu diesem Verlangen – all das, was für den natürlichen Menschen das helle Tagesleben bedeutet –, das ist in Gottes Augen Finsternis[1] und unvereinbar mit dem göttlichen Licht. Es muß mit allen Wurzeln heraus, wenn für Gott Raum werden soll in der Seele. Dieser Forderung entsprechen, heißt mit der eigenen Natur auf der ganzen Linie den Kampf aufnehmen, sein Kreuz auf sich nehmen und sich zur Kreuzigung ausliefern. Der heilige Vater Johannes führt in diesem Zusammenhang das Wort des Herrn an: „Wer nicht allem entsagt, was er (mit dem Verlangen) besitzt, kann mein Jünger nicht sein“ (Luc. 14,33). Daß die Herrschaft des Verlangens in der Seele wahrhaft Finsternis ist, wird ausführlich nachgewiesen: die Gelüste ermüden und quälen die Seele, verdunkeln, beflecken und schwächen sie; und sie rauben ihr den Geist Gottes, von dem sie sich durch die Hingabe an den tierischen Geist abwendet. Den Kampf dagegen aufnehmen oder sein Kreuz auf sich nehmen, das heißt aktiv in die dunkle Nacht eingehen. Der Heilige gibt dafür einige kurze und bündige Weisungen, von denen er selbst sagt: „Wer sich .... allen Ernstes darin schulen will, der wird keine anderen mehr brauchen, da er in ihnen alle hat“. Sie lauten:

„1) Trage immerfort das Verlangen, Christus in allen Dingen nachzuahmen und dein Leben dem Seinen gleichförmig zu machen. Darum mußt du es betrachten, damit du es nachahmen und in allem dich so verhalten kannst, wie Er sich verhalten würde.

2) Damit du das ja gut fertig bringest, mußt du auf jeden Genuß verzichten, der sich deinen Sinnen bietet, und ihn fern von dir halten, wenn er nicht einzig zur Ehre und Verherrlichung Gottes gereicht.

Und zwar sollst du das tun aus Liebe zu Jesus, der in Seinem Leben keine andere Freude und kein Verlangen kannte als den Willen Seines Vaters zu vollziehen. Dies nannte er Seine Speise und Nahrung. Wenn sich dir z.B. ein Vergnügen bietet im Anhören von Dingen, die nicht zum Dienste Gottes beitragen, dann sollst du daran weder Freude haben noch sie anhören wollen .... Ebenso übe Entsagung in Bezug auf alle deine Sinne, sofern du ihre Eindrücke gut abweisen kannst. Denn


  1. Diese Finsternis, in der Sünde begründet, ist durchaus unterschieden von der Dunkelheit, die in Gott ihren Ursprung hat und zur Aufhebung der Finsternis führt.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/041&oldid=- (Version vom 3.8.2020)