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Passive Nacht als Gekreuzigtwerden

sich zur Kreuzigung ausliefern, aber er kann sich nicht selbst kreuzigen. Darum muß das, was die aktive Nacht begonnen hat, durch die passive Nacht vollendet werden, d.h. durch Gott selbst. „Soviel sich auch die Seele bemüht, sie vermag doch nicht durch eigene Anstrengung sich so wirksam zu reinigen, daß sie auch nur im geringsten zur vollkommenen Liebesvereinigung mit Gott fähig ist, wenn Er sie nicht in Seine Hand nimmt und in jenem dunklen Feuer reinigt....“[1]


c) Passive Nacht als Gekreuzigtwerden

Es ist früher erwähnt worden, daß das aktive Eintreten der Seele in die dunkle Nacht ihr nur möglich ist, weil Gottes Gnade ihr zuvorkommt, sie zieht und auf dem ganzen Wege stützt. Aber diese zuvorkommende und helfende Gnade hat bei den Anfängern noch nicht den Charakter der Dunklen Nacht. Sie werden vielmehr von Gott behandelt wie kleine Kinder von einer zärtlichen Mutter, die sie auf ihren Armen trägt und mit süßer Milch nährt: es wird ihnen bei allen geistlichen Übungen – bei Gebet, Betrachtung und Abtötungen – reichlich Freude und Trost zuteil. Diese Freude wird bei ihnen zum Beweggrund, sich den geistlichen Übungen hinzugeben. Sie merken nicht, welche Unvollkommenheit darin liegt und wieviele Fehler sie bei ihren Tugendübungen begehen. Der Heilige zeigt an lebendigen Beispielen, daß sich bei den Anfängern alle 7 Hauptsünden, auf geistliches Gebiet übertragen, finden: geistliche Hoffart, die sich etwas auf ihre Gnaden und Tugenden zugute tut, auf andere herabsieht und lieber belehrt als Belehrung annimmt; geistliche Habsucht, die nicht genug bekommen kann an Büchern, Kreuzen, Rosenkränzen usw.[2] Um von all diesen Mängeln frei zu werden, müssen wir von der Milch der Tröstungen entwöhnt und mit kräftiger Kost ernährt werden. „Haben sie sich eine Zeit lang auf dem Wege der Tugend geübt, in der Betrachtung und in dem Gebet sich treu erwiesen und durch die Süßigkeit und den Genuß, den sie dabei gefunden, sich von der Anhänglichkeit und Liebe zu den Dingen dieser Welt freigemacht, haben sie sich endlich einige geistige Kraft in Gott erworben, wodurch sie das Gelüsten nach den Geschöpfen bezähmen und um Gottes willen einige Beschwerden und Trockenheiten ertragen können, ohne sich


  1. Dunkle Nacht, Die Nacht der Sinne § 4, E. Cr. II 13.
  2. a. a. O. § 2 ff., E. Cr. II 8 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/043&oldid=- (Version vom 3.8.2020)