Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/050

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

kommt es, daß dies überhelle Licht, das der Seele im Glauben zuteil wird, für sie dunkle Finsternis ist, denn das Größere beraubt und überwindet des Geringere“. „So verschlingt und überwindet das Licht des Glaubens durch seine übergroße Stärke das Licht unseres Verstandes, das sich ja von sich aus nur auf natürliche Erkenntnis erstreckt“[1]. Es kann indessen für Übernatürliches aufnahmefähig werden, wenn Gott es zu übernatürlicher Erkenntnis erheben will. Aus sich selbst vermag der Verstand nur natürliche Erkenntnis zu gewinnen auf dem für ihn natürlichen Wege: mit Hilfe der Sinne, die ihm einen Gegenstand darbieten. „Dann muß er die Vorstellungen und Eindrücke von den Dingen festhalten, entweder so, wie sie in sich sind, oder in Gleichnissen“[2]. Spricht man einem Menschen von etwas, was er niemals gesehen hat, und kennt er auch nichts Ähnliches, was ihm auf die Spur helfen kann, so wird er wohl den Namen auffassen können, aber niemals ein Bild von der Sache gewinnen: z.B. der Blindgeborene von der Farbe. Ähnlich verhält es sich für uns mit dem Glauben: er berichtet uns von Dingen, von denen wir nie etwas gesehen oder gehört haben; wir kennen auch nichts, was ihnen ähnlich wäre. Wir können bloß annehmen, was uns gesagt wird, indem wir das Licht unserer natürlichen Erkenntnis ausschalten. Wir haben nur dem zuzustimmen, was wir hören, ohne daß es uns durch einen Sinn nahegebracht würde. Darum ist der Glaube für die Seele völlig dunkle Nacht. Aber gerade dadurch bringt er ihr Licht: ein Wissen von vollkommener Gewißheit, das jede andere Kenntnis und Wissenschaft übertrifft, sodaß man nur in vollkommener Beschauung zur richtigen Vorstellung vom Glauben gelangen kann. Darum heißt es: Si non credideritis, non intelligetis („Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht zur Einsicht kommen“. Is. 7, 3)[3]. Aus dem letzten ist nicht nur klar geworden, daß der Glaube eine dunkle Nacht ist, sondern auch daß er ein Weg ist: der Weg zu dem Ziel, dem die Seele zustrebt, zur Vereinigung mit Gott. Denn er allein gibt Kenntnis von Gott. Und wie sollte man zur Vereinigung mit Gott gelangen, ohne Ihn zu kennen? Um aber vom Glauben ans Ziel geführt werden zu können, muß sich die Seele in der rechten Weise verhalten. Sie muß nach eigener Wahl und in eigener Kraft in die Glaubensnacht eingehen. Nachdem sie in der Nacht der Sinne allem Verlangen nach den Geschöpfen entsagt hat, muß sie jetzt, um zu Gott zu gelangen, ihren natürlichen Kräften, den Sinnen und auch dem Verstand, absterben. Denn um die übernatürliche


  1. Aufstieg, B. II Kap. 2, E. Cr. I 102.
  2. Vgl. Aufstieg, B. II Kap. 2, E. Cr. I 103.
  3. a. a. O. I 104.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/050&oldid=- (Version vom 3.8.2020)