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Entblößung der geistigen Kräfte als Kreuzweg und Kreuzestod

ihr eigen nennt, was Gottes ist“. So weit geht die Vereinigung, „daß alles, was Gott und der Seele zu eigen ist, eins wird in dieser Mitteilung und Umgestaltung. So scheint dann die Seele mehr Gott zu sein als Seele“. Sie ist Gott durch Teilnahme, behält aber trotz der Umwandlung „ihr natürliches, vom göttlichen so ganz verschiedenes Sein“[1].


b) Entblößung der geistigen Kräfte als Kreuzweg und Kreuzestod

Die Entblößung, die für diese umwandelnde Vereinigung erfordert ist, wird im Verstand durch den Glauben gewirkt, im Gedächtnis durch die Hoffnung, im Willen durch die Liebe. Vom Glauben ist schon gezeigt worden, daß er dem Verstand eine sichere, aber dunkle Erkenntnis verleiht. Er zeigt Gott als unzugängliches Licht, als unfaßlich-unendlichen, dem gegenüber alle natürlichen Kräfte versagen, und gerade dadurch führt er den Verstand auf sein ganzes Nichts zurück: er erkennt seine eigene Ohnmacht und Gottes Größe. So versetzt die Hoffnung das Gedächtnis ins Leere, da sie es mit etwas beschäftigt, was man noch nicht besitzt. „Denn wie kann einer erhoffen, was er schon erfüllt sieht?“ (Rom. 8,24). Sie lehrt uns, alles von Gott zu erhoffen und nichts von uns selbst und andern Geschöpfen; von Ihm eine Seligkeit ohne Ende zu erwarten und eben darum in diesem Leben auf jeden Genuß und Besitz zu verzichten. Die Liebe schließlich macht den Willen frei von allen Dingen, da sie es zur Pflicht macht, Gott über alles zu lieben. Das ist aber nur möglich, wenn das Verlangen nach allem Geschöpflichen aufgehoben ist. Dieser Weg der vollständigen Entäußerung ist schon früher als der schmale Weg gedeutet worden, den nur wenige finden (Matth. 7,14). Der Weg, der auf den hohen Berg der Vollkommenheit führt und nur von denen beschritten werden kann, die von keiner Last abwärts gezogen werden. Der Kreuzweg, zu dem der Herr seine Jünger einladet: „Wer mein Jünger werden will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen .... verliert, wird es retten“ (Marc. 8, 34 f.). Was hier verlangt wird, ist nicht bloß ein wenig Zurückgezogenheit und eine gewisse Verbesserung in dieser oder jener Hinsicht; ein wenig Verlängerung des Gebetes und ein wenig Abtötung; dabei Genuß


  1. a. a. O. B. II Kap. 4, E. Cr. I 113 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/053&oldid=- (Version vom 3.8.2020)