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Entblößung der geistigen Kräfte als Kreuzweg und Kreuzestod

verhelfen, mögen auch solche Seelen noch so erhabene Betrachtungen anstellen und engelgleichen Verkehr mit Gott pflegen“. Christus ist unser Weg. Alles kommt darauf an, zu verstehen, wie wir nach dem Vorbild Christi wandeln sollen. „Zum ersten: Es ist unbestritten, daß Er starb: geistig verstanden während Seines ganzen Lebens für alles Sinnliche, und natürlich verstanden bei Seinem Tod. Er hatte ja, wie Er selber sagt, im Leben nichts, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte’ (Matth. 8,20). Im Tode hatte Er noch weniger. Zum zweiten: Es ist sicher, daß Er im Augenblick des Todes in Seinem Innersten völlig verlassen, ja wie vernichtet war, da Ihn der Vater ohne jeden Trost und ohne jede Erleichterung, also in äußerster Trockenheit ließ. Darum mußte Er am Kreuz ausrufen: ,Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?’ (Matth. 27,46). Dies war wohl die größte Verlassenheit, die Er mit den Sinnen in Seinem Leben auszuhalten hatte. Aber gerade damals vollbrachte Er auch ein größeres Werk als während Seines ganzen Lebens mit all den Zeichen und Wundern ....: die gnadenvolle Versöhnung und Vereinigung des Menschengeschlechtes mit Gott. Und das geschah in dem Augenblick, als der Herr in allem am meisten vernichtet war....: in der Achtung der Menschen, denn als sie Ihn am Kreuze sterben sahen, verspotteten sie Ihn; der Natur nach, denn sie wurde durch den Tod völlig zunichte; in der Hilfe und dem Trost von Seiten des Vaters, denn in jenem Zeitpunkt ließ Er Ihn ja ganz ohne Hilfe, damit Er völlig entäußert und gleichsam vernichtet, wie aufgelöst in Nichts, die Schuld tilge und den Menschen mit Gott vereine .... Daraus möge eine wahrhaft geistliche Seele das Geheimnis von Christus als der Tür und dem Weg zur Vereinigung mit Gott verstehen lernen und so einsehen, daß sie sich um so inniger mit Gott vereint und ein um so größeres Werk vollbringt, je mehr sie sich um Gottes willen im Sinnlichen wie Geistigen selber vernichtet. Und wenn sie in tiefster Erniedrigung zur Auflösung in Nichts gelangt, dann kommt die geistige Vereinigung der Seele mit Gott zustande, die höchste Stufe, welche die Seele hienieden erreichen kann. Diese besteht also nicht in geistigen Erquickungen und Wonnen und Empfindungen, sondern in einem Kreuzestod bei lebendigem Leibe, im Sinnlichen wie im Geistigen, äußerlich wie innerlich“[1].



  1. a. a. O. B. II Kap. 6, E. Cr. I 123 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/055&oldid=- (Version vom 3.8.2020)