Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/060

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

dieses Zustandes und der Rückkehr zum fruchtlos gewordenen Nachsinnen.

In der Beschauung sind die geistigen Fähigkeiten, Gedächtnis, Verstand und Willen, vereint tätig. Im Betrachten und Nachsinnen dagegen sieht Johannes vom Kreuz noch eine Betätigung der sinnlichen Fähigkeiten. Je reiner, einfacher und vollkommener, geistiger und innerlicher die allgemeine Erkenntnis ist – und das ist sie, wenn sie sich in eine ganz lautere Seele ergießt, die frei ist von anderweitigen Eindrücken und Einzelerkenntnissen –, desto freier und zarter ist sie und desto eher kann sie sich der Wahrnehmung entziehen. Die Seele befindet sich wie in einem tiefen Vergessen und lebt gleichsam zeitlos. Das Gebet dünkt ihr ganz kurz, wenn es auch stundenlang gedauert hat. Dies kurze Gebet „durchdringt die Himmel, weil eine solche Seele in himmlischem Erkennen in sich eins geworden ist“[1]. Es hinterläßt als Wirkung eine gewisse Erhebung des Gemütes zu himmlischem Erkennen und zugleich eine Entfremdung und Loslösung von allen Dingen, Formen und Bildern. Zugleich ist meist der Wille davon ergriffen: in Liebeswonne versenkt, ohne daß man recht weiß, welches der Gegenstand der Liebe ist. Die Tätigkeit der Seele in diesem Zustand besteht rein im Empfangen dessen, „was ihr in den Erleuchtungen, Offenbarungen und Eingebungen von Gott mitgeteilt wird“. Es ist ein klares und lauteres Licht, das sich in sie ergießt. Nichts anderes kommt ihm gleich, und jede Hinwendung zu besonderen Gegenständen oder Erwägungen „würde .... dem feinen und einfachen geistigen Licht im Weg stehen, als schöbe man Wolken dazwischen“. „.... Dieses Licht fehlt niemals in der Seele; doch wegen der geschöpflichen Formen und Hüllen, womit die Seele bedeckt und umhüllt ist, kann es sich nicht in sie ergießen. Sobald sie sich aber dieser Hindernisse und Hüllen vollständig entledigt und sich der vollen Entäußerung und Armut des Geistes hingibt, wird die Seele, selber schon lauter und rein, umgestaltet in die lautere und reine göttliche Weisheit, die der Sohn Gottes ist“. Es ergießen sich in sie „die Ruhe und der Friede Gottes .... mit wunderbaren .... Erkenntnissen Gottes, die eingehüllt sind in die göttliche Liebe“[2]. In diesem erhabenen Zustand der Liebesvereinigung teilt sich Gott der Seele nicht mehr mit „unter der Hülle einer Vision der Einbildungskraft oder eines Gleichnisses noch sonst eines Bildes...., sondern .... vielmehr von Mund zu Mund.... (Num. 12, 6 ff.) ...., d.h. in der reinen, bloßen göttlichen


  1. Aufstieg, B. II Kap. 12, E. Cr. I 154 ff.
  2. a. a. O. B. II Kap. 13, E. Cr. I 164 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/060&oldid=- (Version vom 3.8.2020)