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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

mitgeteilt und „haben stets nur jene Wirkung, die Gott erzielen will, ohne daß die Seele dabei ihre Tätigkeit zu entfalten braucht“[1].

Offenbarungen im engeren Sinn beziehen sich auf Glaubensgebeimnisse: auf das Wesen Gottes (Dreifaltigkeit und Einheit) sowie auf das göttliche Wirken in der Schöpfung. Zu der zweiten Reihe gehören die Verheißungen und Drohungen Gottes durch den Mund der Propheten, ferner das, was „Gott hin und wieder über die Welt im allgemeinen wie auch über einzelne Reiche, Provinzen, Staaten, Familien und einzelne Personen offenbart“. Wenn Glaubensgeheimnisse dem Geist nahegebracht werden, so ist das, streng genommen, keine Offenbarung, da sie ja bereits offenbart sind, sondern nur eine neue Darstellung und Erklärung einer bereits offenbarten Wahrheit. Da all dies durch Worte oder Zeichen vermittelt wird, kann es leicht durch den Teufel nachgeäfft werden. Wenn darum etwas offenbar würde, was vom Glauben abwiche, dürfte man es auf keinen Fall annehmen. Und selbst bei neuer Darbietung bereits geoffenbarter Wahrheiten soll die Seele sie „nicht deshalb annehmen, weil sie ihr wieder dargeboten werden, sondern weil sie der Kirche schon hinreichend offenbart sind“. Es ist für sie „viel besser, wenn sie in Sachen des Glaubens nicht so klar sehen will. Denn so bewahrt sie sich das Verdienst des Glaubens rein und ganz, und nur so gelangt sie in dieser Nacht des Verstandes zum göttlichen Licht der Vereinigung mit Gott“. Die Seele tut klug daran, sich vor all diesen Mitteilungen in acht zu nehmen; „nur so kann sie in Reinheit und ohne Gefahr des Irrtums durch die Nacht des Glaubens zur göttlichen Vereinigung gelangen“[2].

Als dritte Gruppe rein geistiger Mitteilungen hatte Johannes die Ansprachen genannt, die ohne Vermittlung eines leiblichen Sinnes vom Verstand vernommen werden. Er gliedert sie in sukzessive, formelle und substantielle. Die ersten sind Worte und Schlußfolgerungen, die der in sich gekehrte Geist selbst bildet. Das geschieht dann, wenn er „vollkommen gesammelt ist und gleichsam ganz aufgeht in einer Betrachtung“. Er „eilt von Gedanken zu Gedanken, bildet Worte und Schlußfolgerungen, die genau der Sache entsprechen, und zwar zwanglos und sicher und über Dinge, die ihm bisher völlig unbekannt waren“. Es kommt ihm vor, als ob ein anderer in seinem Innern ihm Antwort gebe und ihn belehre. In der Tat spricht er mit sich selbst, stellt Fragen und antwortet darauf, aber er ist dabei das Werkzeug des Heiligen Geistes, unter dessen Einwirkung


  1. a. a. O. B. II Kap. 24, E. Cr. I 243.
  2. a. a. O. B. II Kap. 25, E. Cr. I 245 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/066&oldid=- (Version vom 3.8.2020)