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Entblößung des Gedächtnisses

worden, Es wird in unserm Zusammenhang nicht möglich sein, die Fülle von Fragen und Ausblicken, die sich von hier aus eröffnen, auch nur anzudeuten. Wir werden herausheben, was für unsere Fragestellung von Wichtigkeit ist. Zuvor aber müssen wir den Gedanken des Heiligen noch weiter folgen. Er hat im Vorausgehenden schon stark betont, daß der Weg des Glaubens durch dunkle Nacht geht und ein Kreuzweg ist. Allerdings ist auch so viel von Licht und Seligkeit die Rede gewesen, daß es manchmal scheinen mochte, als sei das Thema der Nacht und des Kreuzes verlassen. Aber soweit es sich dabei nicht um vorgreifende Darstellung des Zieles handelte – das man kennen muß, um den Weg zu verstehen –, wurde dieser ganze Reichtum an Erleuchtungen und Gnaden nur entfaltet, um zu zeigen, daß man darauf verzichten muß. Nur wer diesen Reichtum besessen hat, kann wohl ermessen, wie schmerzlich eine solche freiwillige Entblößung sein muß: wie dunkel es wird, wenn man mitten im hellen Licht die Augen schließt; wie es eine wahrhafte Kreuzigung ist, das Leben des Geistes zu unterbinden und ihm alles zu entziehen, womit er erquickt wird. Es wurde bereits erwähnt, daß von dieser Entblößung nicht der Verstand allein betroffen wird, sondern auch die andern geistigen Kräfte: Gedächtnis und Willen. Ihrer Zubereitung für die göttliche Vereinigung ist das letzte Buch des Aufstiegs gewidmet.

Weil „die Seele Gott mehr aus dem erkennen muß, was Er nicht ist, als aus dem, was Er ist, muß sie .... zu Ihm gelangen, indem sie auf ihre Wahrnehmungen, natürliche wie übernatürliche, ganz und gar verzichtet, statt sie zuzulassen“.

Wir müssen für das Gedächtnis alle die natürlichen beengenden Schranken aus dem Wege räumen und es dann über sich erheben, d.h. über jegliche genau umschriebene Kenntnis und über jeden sinnenfälligen Besitz, empor zur „höchsten Hoffnung des unfaßbaren Gottes“. Es muß also zunächst aller Kenntnisse und Bilder entkleidet werden, die es durch Vermittlung der leiblichen Sinne gewonnen hat. „Da es keine Form und kein Bild gibt, unter dem das Gedächtnis Gott erfassen könnte“, muß es von allen Formen außer Gott freigemacht werden; es ist, „solange es mit Gott vereint ist, .... gleichsam formlos und bildlos, die Einbildungskraft ist nicht mehr tätig, das Gedächtnis ist vollständig versenkt ins höchste Gut in völligem Vergessen, ohne die geringste Erinnerung an irgend etwas“. Diese vollkommene Ausleerung, die in der Vereinigung stattfindet, ist – wie die Vereinigung selbst – nicht allein die Frucht eigener Tätigkeit. Es geht dabei „etwas ganz Außerordentliches“ vor. „Wenn Gott dem Gedächtnis solche Berührungen der Vereinigung

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/071&oldid=- (Version vom 3.8.2020)