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Entblößung des Gedächtnisses

auf das, „was sich einzig auf Gott bezieht und was zu jener dunklen und allgemeinen, lauteren und einfachen Kenntnis Gottes beiträgt, darauf braucht man nicht zu verzichten, sondern nur auf das, was Ihn uns bildlich oder durch Vergleich mit einem Geschöpf nahebringt“. Es ist das Beste, „die Seelenkräfte zur Ruhe und zum Schweigen zu bringen, auf daß Gott zur Seele reden könne“.

Dann wird „sich ein Strom des Friedens über sie ergießen .... und .... wird sie befreien von jeglicher Besorgnis und allem Argwohn, von Verwirrung und Finsternis, die in ihr die Befürchtung wachriefen, sie sei schon verloren oder nahe daran, verloren zu gehen“[1].

Weitere Nachteile kommen von Seiten des Teufels. Er ist „imstande, der Seele neue Eindrücke, Kenntnisse und Gedankengänge beizubringen und mit deren Hilfe in ihr Stolz, Geiz, Neid, Zorn usw. wachzurufen, sie zu ungerechtem Haß und eitler Liebe zu verführen.... Weitaus die meisten Täuschungen und das meiste Unheil, das der Teufel der Seele zufügt, entspringen aus den Kenntnissen und Gedankenabläufen des Gedächtnisses. Wenn daher dieses Vermögen in völlige Dunkelheit des Vergessens gehüllt und seine Tätigkeit unterbunden ist, bleibt die Pforte dem schädlichen Einfluß des bösen Feindes verschlossen .... und das gereicht der Seele zu großem Segen“[2].

Der dritte Nachteil besteht darin, daß die natürlichen Inhalte des Gedächtnisses in der Seele „das sittliche Gut hindern und ihr das geistige Gut rauben“ können. Das sittliche Gut „besteht in der Beruhigung der Leidenschaften und in der Zügelung der ungeordneten Begierden“ sowie in dem, was dadurch möglich wird: Ruhe, Frieden und Gelassenheit der Seele und in ihrem Gefolge die sittlichen Tugenden. Alle Verwirrung aber und alle Friedensstörung in der Seele kommen durch die Inhalte des Gedächtnisses. Die in Unruhe lebende Seele aber, die keine Stütze am sittlichen Gut hat, ist auch „unempfänglich für das Geistige, das nur in einer gelassenen und friedvollen Seele seine Heimstätte findet“. Legt die Seele Wert auf die Gedächtnisinhalte und wendet sie sich ihnen zu, so „kann sie unmöglich frei sein für das Unbegreifliche, d.h. für Gott“. Will sie zu Gott gelangen, so muß sie „das Veränderliche und Begreifliche vertauschen mit dem Unveränderlichen und Unbegreiflichen“[3]. Dann gewinnt sie an Stelle der geschilderten Nachteile die entgegengesetzten Vorteile: Ruhe und Frieden des Geistes, Reinheit


  1. a. a. O. B. III Kap. 2, E. Cr. I 280.
  2. a. a. O. B. III Kap. 3, E. Cr. I 283.
  3. a. a. O. B. III Kap. 4, E. Cr. I 285 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/073&oldid=- (Version vom 3.8.2020)