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Entblößung des Gedächtnisses

auf andere herab, die keine solchen Gunstbezeugungen erfahren. Demgegenüber muß die Seele zwei Dinge im Auge behalten:

„1) Die Tugend besteht weder in den Wahrnehmungen und Gefühlen von Gott, so erhaben sie auch sein mögen, noch in irgend etwas von dem, was man in sich empfinden kann, sondern vielmehr in dem, was man nicht in sich empfindet. ... Sie besteht in der tiefen Demut und Verachtung seiner selbst und alles dessen, was man besitzt .... sowie auch in dem Verlangen, andere möchten ebenso von uns denken....

2) Man muß davon überzeugt sein, daß alle Visionen, Offenbarungen und übernatürlichen Empfindungen .... viel weniger Wert haben als der geringste Akt der Demut; denn dieser schließt in sich die Wirkungen der Liebe, die das Ihre nicht achtet und sucht, nur Böses von sich denkt, und nichts Gutes von sich, wohl aber von andern“[1].

Der dritte Nachteil kommt vom bösen Feind. „Er hat die Macht, dem Gedächtnis und der Phantasie .... trügerische Erkenntnisse und Bilder vorzuspiegeln, die dem Anschein nach wahr und gut sind....“ Er erscheint der Seele als ein Engel des Lichtes. Er vermag auch bezüglich der Mitteilungen, die wirklich von Gott kommen, die sinnlichen und geistigen Gefühle ungeordnet zu erregen, die Seele dafür einzunehmen und sie so in geistige Schwelgerei zu stürzen. Sie wird blind im Genuß und achtet mehr auf sinnliche Befriedigung als auf die Liebe. Sie ist nicht mehr für die Entäußerung und Liebe zu haben, wie die göttlichen Tugenden sie fordern. Die Ursache aller dieser Übel ist darin zu suchen, „daß die Seele nicht gleich von Anfang an die Freude an solchen übernatürlichen Erscheinungen unterdrückte....“[2]

Der vierte Nachteil ist schon wiederholt erwähnt worden: daß aller Besitz des Gedächtnisses ein Hemmnis für die Vereinigung mit Gott durch die Hoffnung ist.

Schließlich können die Vorstellungen und Bilder der Einbildungskraft, die man im Gedächtnis bewahrt, dahin führen, „daß man über Gottes Wesen und Erhabenheit weniger würdig und hoch denkt, als es Seiner Unbegreiflichkeit geziemt“; nicht „so erhaben, wie es uns der Glaube lehrt, der uns sagt, daß Gott unvergleichlich und unbegreiflich sei“. Die Seele kann in diesem Leben nur das klar und bestimmt aufnehmen, was unter einen Gattungs- und Artbegriff


  1. a. a. O. B. III Kap. 8, E. Cr. I 293 f.
  2. a. a. O. B. III Kap. 9, E. Cr. I 295 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/075&oldid=- (Version vom 3.8.2020)