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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

geistige Erkenntnisse. „Hat die Seele einmal eine solche Erkenntnis in sich aufgenommen, so kann sie sich ihrer erinnern, sooft sie will“, denn die Erkenntnis hinterläßt in der Seele eine Form, ein Bild oder einen Begriff geistiger Art. Es handelt sich dabei um jene früher besprochenen Erkenntnisse unerschaffener Vollkommenheiten oder geschaffener Dinge. Erinnerungen der zweiten Art kann man hervorrufen, um die Liebe zu erwecken. „Verursacht aber die Erinnerung daran keine gute Wirkung, so entferne man sie aus dem Gedächtnis. Handelt es sich aber um unerschaffene Dinge, so darf man sooft wie möglich seine Gedanken darauf richten.... Es sind das ja Berührungen und Empfindungen der Vereinigung mit Gott, zu der wir die Seele führen wollen“. Man erinnert sich ihrer nicht durch eine Form oder eine Gestalt, da sie nichts dergleichen an sich haben, sondern durch ihre Wirkungen: Erleuchtung, Liebe, Wonne, geistige Erneuerung. Und sooft man ihrer gedenkt, „erneuert sich eine dieser Wirkungen“[1].

Zusammenfassend erinnert der Heilige noch einmal daran, daß es ihm nur darauf ankommt, das Gedächtnis zur Vereinigung mit Gott zu führen. Weil man nur hoffen kann, was man nicht besitzt, wird die Hoffnung um so vollkommener sein, je weniger man besitzt. „Je mehr darum die Seele das Gedächtnis von Formen und Dingen freihält, die nicht Gott sind, desto tiefer wird sie es in Gott begründen, desto besser wird sie es bewahren, um hoffen zu können, daß Gott es vollständig in Besitz nimmt“. Sooft bestimmte Bilder oder Erkenntnisse sich darbieten, soll man darüber hinweggehen und sich Gott zuwenden. Nur soweit darf sich die Seele mit Erinnerungen abgeben, als es die Erfüllung ihrer Pflichten erfordert. Dann soll es aber ohne Anhänglichkeit und Freude daran geschehen, damit sie die Seele nicht völlig einnehmen[2].


e) Läuterung des Willens

„Wir hätten soviel wie nichts getan, wenn wir uns damit begnügten, den Verstand zu reinigen, um ihn in der Tugend des Glaubens zu begründen, und das Gedächtnis für die der Hoffnung, wenn wir nicht auch den Willen um der dritten Tugend, der Liebe, willen


  1. a. a. O. B. III Kap. 13, E. Cr. I 306 f.
  2. Zum thomistischen Begriff der passio vgl. Des hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit. In deutscher Übertragung von Edith Stein, E. Steins Werke, Bd. III, S. 296, Anm. 1, sowie die Stellen, die in dem zugehörigen lat.-deutschen Wörterverzeichnis unter passio angegeben sind (s. ebenda, Bd. IV).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/078&oldid=- (Version vom 3.8.2020)