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Läuterung des Willens

läutern wollten“. Alles, was dazu gehört, damit dies Vermögen durch die Gottesliebe geformt sei, ist vollkommen ausgedrückt in den Worten des Deuteronomiums: „Liebe den Herrn deinen Gott aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und aus allen deinen Kräften“ (Deut. 6, 5). „Die Kraft der Seele besteht in ihrem Vermögen, leidend erfahrenen Zuständen (Leidenschaften) und Bestrebungen (potencias, pasiones y apetitos); dies alles aber ist der Herrschaft des Willens unterworfen. Wenn nun der Wille alle diese Vermögen, Zustände und Bestrebungen Gott zuwendet und sie von allem ablenkt, was nicht Gott ist, dann bewahrt er die Kraft der Seele für Gott, und so kommt er dazu, Gott aus ganzer Kraft zu lieben“.

Als Haupthindernis stehen im Wege die vier Passionen der Seele: Freude, Hoffnung, Schmerz und Furcht. „Wenn man diese Passionen durch die Vernunft so auf Gott hinordnet, daß die Seele einzig an dem Freude findet, was zur Ehre und Verherrlichung Gottes unseres Herrn dient, daß ihre Hoffnung nicht anderes zum Ziel hat, daß sie über nichts Schmerz empfindet, als was Gott betrifft, und nichts fürchtet als Gott: dann ist es klar, daß die ganze Kraft und Fähigkeit der Seele für Gott bewahrt wird. Je mehr sich aber die Seele an etwas anderem erfreut, desto geringer wird ihre Freude an Gott....“ Durch die Läuterung des Willens von seinen Begierden „wird der menschliche und niedere Wille vergöttlicht, d.h. eins mit dem Willen Gottes“. Wenn sie nicht im Zaum gehalten werden, erzeugen die Passionen in der Seele alle Unvollkommenheiten, aber sobald sie wohlgeordnet und in Unterwürfigkeit gebracht sind, alle Tugenden. Alle vier hängen so eng zusammen, daß die Unterwerfung der einen auch die anderen gefügig macht. Umgekehrt: wo der Wille sich an etwas erfreut, ist in ihm auch der Keim zu Hoffnung, Schmerz und Furcht im Hinblick auf dieselbe Sache. Eine Passion nimmt die andern, den Willen und die ganze Seele gefangen und hindert ihren Flug „zur Freiheit und Ruhe der süßen Beschauung und Vereinigung“[1].

In der folgenden Erörterung der Freude wird der Grundsatz vorangestellt: „Der Wille darf sich nur an dem erfreuen, was zur Ehre und Verherrlichung Gottes dient; und wir können Gott durch nichts größere Ehre erweisen, als wenn wir Ihm in evangelischer Vollkommenheit dienen. Was außerhalb des Rahmens dieser Vollkommenheit geschieht, hat für den Menschen weder Wert noch Nutzen“[2].


  1. a. a. O. B. III Kap. 15, E. Cr. I 311 ff.
  2. a. a. O. B. III Kap. 16, E. Cr. I 314 f.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/079&oldid=- (Version vom 3.8.2020)