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Wechselseitige Aufhellung von Geist und Glauben

Tier). Erkenntnis dagegen, selbst in der niederen Form der sinnlichen Wahrnehmung, ist nicht ohne Geistestätigkeit möglich. Dazu kommt noch, daß das, was die Seele recht eigentlich „einnimmt“, das Begehren und Genießen ist.

Sinnliche Erkenntnis ist nicht ohne Geistestätigkeit möglich: darin deutet sich der enge Zusammenhang von höherem und niederem seelischen Sein an. Es sind keine übereinandergebauten Stockwerke. Die Rede vom höheren und niederen Teil ist nur ein räumliches Bild für etwas, was ganz unräumliches Sein hat. Johannes sagt ausdrücklich, daß man bei „der Seele als Geist weder von hoch noch von tief .... sprechen kann wie .... bei den ausgedehnten Körpern....“[1] Sinnliches und geistiges Tun sind im natürlichen Bereich eng miteinander verflochten. Wie die Fenster der Sinne zu keiner Erkenntnis der sinnenfälligen Welt führen, wenn der Geist nicht durch sie hinausguckt, so bedarf er andererseits dieser Fenster, um in die Welt hineinzuschauen. Anders ausgedrückt: die Sinne liefern ihm den Stoff, an dem er sich betätigt. Übereinstimmend mit Augustinus[2] und abweichend vom hl. Thomas setzt Johannes als dritte geistige Kraft neben Verstand und Willen das Gedächtnis an. Darin ist kein tiefgehender sachlicher Gegensatz zu sehen, da es sich ja dort um keine wirkliche Teilung der Seele handelt, sondern um verschiedene Betätigungsweisen und um Bereitstellung der einen seelischen Kraft in dieser und jener Richtung. Es lassen sich für beide Einteilungen gute Gründe anführen. Ohne die ursprüngliche Leistung des Gedächtnisses – das Behalten – wäre weder ein sinnlicher Eindruck noch eine geistige Tätigkeit möglich.

Denn beides baut sich in einem zeitlichen Nacheinander auf, und dafür ist erforderlich, daß die jeweiligen Augenblicksinhalte (grob gesprochen) nicht versinken, sondern bewahrt bleiben. Für die eigentliche Verstandestätigkeit (Vergleichen, Verallgemeinern, Folgern usw.) läßt sich zeigen, daß dafür auch die andern Leistungen des Gedächtnisses – Wiedererinnerungen und freie Abwandlung durch die Phantasie – nötig sind. Das kann aber hier nicht weiter verfolgt werden. Es wurde nur angedeutet, weil daraus verständlich wird, daß man beim Gedächtnis sinnliche und geistige Leistungen unterscheiden und es in den andern Vermögen einbeschlossen denken kann[3]. Auf der andern Seite sind seine Leistungen keine


  1. Lebendige Liebesflamme, Erklärung zu Strophe 1, Vers 3. Obras IV 12, 114.
  2. De Trinitate XII 4 und 7.
  3. Thomas rechnet das Gedächtnis im eigentlichen Sinne zur Sinnlichkeit, weil es das Vergangene als Vergangenes erkennt, also vom Gegenwärtigen unterscheidet: das sei Sache der Sinnlichkeit. Weil aber der Verstand nicht nur Gegenwärtiges [101] erkennt, sondern auch, daß er sie erkennt, und so, daß er diese Erkenntnis schon früher besessen hat, kann man das Gedächtnis auch zum geistigen Teil der Seele rechnen (Quaestiones disputatae de veritate, q 10 a 2 c., Edith Steins Werke, Bd. III).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/100&oldid=- (Version vom 3.8.2020)